Ein Geruch nach Regen

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Es roch nach Regen. Nach warmem, lautem Sommerregen. Er würde der Erde gut tun, sie war nach der ganzen Hitze und Trockenheit ganz ausgelaugt. Ausgedörrt. Und die Pflanzen waren am Verdursten, sahen braun und verdorrt aus.
Sie war genauso ausgelaugt wie die Erde, müde, erschöpft, aber bei ihr lag es nur bedingt am Wetter. Ein bisschen schon, ein bisschen machte die Hitze sie auch fertig. Sie schwitzte so viel, musste so viel trinken, und das mochte sie nicht. Deswegen laugte die Hitze auch sie aus.
Es roch nach Regen, doch noch regnete es nicht.
Doch der wichtigere Grund für ihre Erschöpftheit waren die letzten zwei Wochen gewesen. Der Urlaub war eigentlich dazu gedacht gewesen, sich zu entspannen, sich ein wenig von ihrer anstrengenden Arbeit zu erholen. Auf dem Hinweg, gemeinsam mit ihrem Freund, hatte sie sich noch so gefreut, war so glücklich gewesen, endlich Urlaub zu haben. Die ersten Tage waren auch wunderbar gewesen, doch dann hatten sie angefangen zu streiten und die Idylle verschwand. Sie hatten früher schon gestritten, doch dieses Mal war es anders. Sie stritten über alles, über die Aktivitäten des nächsten Tages, über seine Kochkünste, über die neue Wohnung, über ihre Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, sie stritten sogar darüber, ob sie gerade stritten. Und dann war die Nachricht gekommen, man habe die Leiche ihres Bruders gefunden. Sie hatte zwar schon vor Jahren die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wiederzusehen, doch das hatte sie zusammenbrechen lassen. Und er hatte nur gesagt, sie sei schwach und solle sich beruhigen. Da war sie ausgerastet.
Und jetzt saß sie hier. Auf ihrem Koffer, allein, inmitten des Geruchs nach Regen, und wartete auf ihren Zug.
Und dann fing es an zu regnen.
Die Erde atmete auf, die Pflanzen seufzte, alles sog die Flüssigkeit begierig auf. Der Regen bedeutete Erlösung.
Sie sah auf die Uhr. Ihr Zug fuhr erst in zwanzig Minuten. Das reichte.
Sie stand auf, nahm ihren Koffer und rannte aus dem Bahnhofsgebäude. Hinaus in den Regen. Draußen ließ sie ihren Koffer neben sich auf den Boden fallen. Sie hielt ihr Gesicht Richtung Himmel, ließ das Wasser einfach nur auf sich fallen.
Der Regen war warm und weich, dicke Tropfen fielen aus den finsteren Wolken und durchnässten sie. Er wusch den Staub von den Straßen, den Autos, den Bäumen, ihrem Herzen. Mit jedem Tropfen, der sie traf, fühlte sie sich leichter und leichter. Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Regen, wie ein kleines Kind. Die Passanten sahen sie an als sei sie verrückt, doch das störte sie nicht. Durch den Regen flog sie von allem davon. Von ihren Sorgen, ihrer Trauer, der Arbeit, den Menschen hier.
Sie flog davon.

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