Momentaufnahmen

Der Herzschlag der See

Valeria stieg die letzten Stufen zum Strand hinunter. Ihre Füße versanken in dem noch warmen Sand und sie schloss für einen kurzen Moment zufrieden die Augen. Dann ging sie langsam auf den Wassersaum zu.

Der Strand war wie ausgestorben; die ganzen Touristen, die ihn den Tag über bevölkerten, saßen nun beim Abendessen und die Einheimischen mieden ihn, da er tagsüber überfüllt war und abends komplett im Schatten lag. Doch genau dies war das, was Valeria an dem kleinen Sandstrand liebte. Sie fand, dass diese Ruhe und Einsamkeit ihm irgendwie seine Seele zurückgab. Als sie das einmal ihrer Mutter zu erklären versucht hatte, hatte diese nur lachend den Kopf geschüttelt und sie mi loquita soñadora genannt. Danach hatte Valeria nie wieder den Versuch unternommen, jemand anderem von der Seele des Strandes zu erzählen. Sie war sich sicher, dass er eine Seele besaß, genau wie das Pinienwäldchen oberhalb des Hotels ihrer Eltern, doch sie kam nur des Abends und Nachts zum Vorschein. Und dann war eben nur Valeria am Strand, um das zu spüren. Wenn sie die Seele spürte, dann gab ihr das etwas zurück. Nach einem langen, anstrengenden Tag am Strand zu sein, nahm ihr die Unruhe und Erschöpfund und erfüllt sie auf eine seltsame Weise mit Frieden.

Valeria zog ihre Jeans und das T-Shirt aus und lief ins Wasser. Als das Wasser ihr bis zu den Knien reichte, hielt sie einen Moment inne, um die sinkende, rot glühende Sonne zu betrachten, dann stürzte sie sich vollends in die Fluten. Das kühle Wasser und der salzige Meeresduft klärten Valerias Kopf und vertrieben ihre Grübeleien. Es existierten nur noch sie und die See.

Valerias Großmutter hatte oft gesagt, das Meer habe einen Herzschlag. Sie war die einzige gewesen, die das Mädchen verstanden hatte.

Valeria drehte sich auf den Rücken, sodass ihre Ohren unter Wasser waren, breitete die Arme aus und ließ sich treiben. Zunächst hörte sie nur das Knistern des Salzes in ihren langen Haaren, doch nach und nach mischte sich ein anderes Geräusch darunter: ein Rauschen, das gleichmäßig an- und abschwoll, fast wie die Atmung eines riesigen Tieres. Oder ein Puls.

Ja, Valeria war sich sicher: sie lauschte dem Herzschlag der See.