Runaway Girl

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Sie schlingt die Arme um sich und zittert. Es ist kalt heute, furchtbar kalt, schließlich ist erst Februar. Deswegen ist ihr kalt. Deswegen und weil sie keine Jacke trägt. Und keine Schuhe. Das war dumm, das weiß sie, aber jetzt lässt es sich auch nicht ändern.
Sie hört Schritte auf der Straße entlanggehen, die kleinen Steinchen knirschen unter irgendwelchen Schuhen, und sie duckt sich tiefer unter das Holzgeländer des Spielplatzhäuschens. Jetzt ist es mal gut, dass sie so klein ist, sie kann sich perfekt verstecken. Die knirschenden Schuhe gehen vorbei, sie atmet auf und entspannt sich ein wenig.
Ihr ist wirklich furchtbar kalt. Aber sie wird nicht mehr nach Hause zurückgehen, auf keinen Fall. Mama war einfach wieder so gemein zu ihr!!!
Dass sie auf dem Spaziergang so sauer wurde, dass sie wieder nach Hause ging, das war vielleicht wirklich doof. Aber dabei hätte Mama es doch auch einfach lassen können. Wenn sie wieder zurück gewesen wäre, hätte sie schimpfen können und damit wäre es das gewesen. Oder Mama hätte gleich, als sie Papa nach dem Schlüssel fragte, sagen können, dass sie weiter mitgehen muss. Dann wäre sie zwar beleidigt gewesen, aber nicht so sauer und traurig wie jetzt. Nicht ansatzweise.
Stattdessen ging sie nach Hause, zog sich Schuhe und Jacke aus. Und als sie dabei war, ins Wohnzimmer zu gehen, um zu lesen, kam Mama zur Tür herein. Furchtbar wütend. Sie schrie sie an, sie solle sich wieder anziehen und jetzt VERDAMMT NOCH MAL mitkommen. Und als sie sich weigerte, nahm Mama sie am Arm und wollte sie zwingen, mitzukommen zum Spaziergang. Da wurde sie wütend, so unfassbar wütend und drehte durch. Sie riss die Haustür auf und rannte hinaus, auf Socken und ohne Jacke. Sie heulte furchtbar und rannte den ganzen Berg hinunter, zum Haus ihrer besten Freundin. Sie bekam kalte Füße und die Steinchen pieksten ihre Fußsohlen, aber das bekam sie gar nicht richtig mit, so sehr heulte sie. Als sie bei ihrer Freundin um die Ecke bog, stand der Vater schon draußen, weil er mit dem Auto etwas machte. Als er sie sah, sagte er: "Komm rein, Süße, dann warten wir auf deine Eltern, die haben hier schon angerufen!"
"Nein! Nein!", schrie sie und drehte sich um und rannte wieder davon. Den Berg wieder hoch, zumindest ein bisschen, und weil sie nicht wusste, wo sie hin sollte, lief sie auf den Spielplatz und versteckte sich im Häuschen.
Fast zwei Stunden sitzt sie jetzt schon hier, sie kann die Kirchenglocken hören. Ihre Knie sind steif und ihre Zehen taub von der Kälte. Sie ist enttäuscht, enttäuscht, dass niemand sie suchen gekommen ist. Deswegen will ihr Trotz eigentlich nicht nach Hause gehen. Aber inzwischen schämt sie sich ein bisschen. Dafür, dass sie weggelaufen ist, dass sie sich verhalten hat wie eine Dreijährige, dabei ist sie doch schon fast zehn. Langsam steht sie auf, klettert aus dem Häuschen hinaus und die Leiter hinunter. Sie geht den Berg im Schneckentempo hinauf, spürt jetzt die piksenden Steinchen.
Sie klingelt, wartet, hört die Schritte, Mama macht die Tür auf. "Amrei, Gott sei Dank bist du wieder da, wir hatten schon die Polizei angerufen", sagt sie. Jetzt schämt Amrei sich wirklich, sie haben sich ja doch Sorgen gemacht! Mama nimmt sie in den Arm und sie fängt furchtbar an zu weinen.





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