Kraniche und Erinnerungen

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Sie stapft den Hügel hinauf, in der kühlen Morgenluft bildet ihr Atem Wölkchen, die sie fasziniert betrachtet. Der Himmel ist klar, war es die ganze Nacht über, deswegen ist es noch so kalt. Sie kann den Ort überblicken, das kann man immer von hier oben, aber heute sieht man sogar das andere Ende der Stadt , nur schwach von bläulichem Dunst verhüllt.

Oben angekommen lässt sie ihre Tasche auf den Boden fallen und holt ein schmuddeliges Kissen daraus hervor, auf welches sie sich setzt. Es folgen eine bunte Box, ein Locher, eine große Packung roter Luftballons, Bindfaden und eine Flasche Ballongas. Hoffentlich reicht es für hundert Ballons, wie ihr der Verkäufer versprochen hat.

Sie nimmt die Box in die Hand und muss lächeln. Sie weiß noch ganz genau, wie aufgeregt sie war, als das Päckchen ankam. Es stand vor der Tür, ohne das der Paketbote geklingelt hätte und sie starb fast vor Aufregung, weil sie gehen musste, ohne es zuvor zu öffnen. Die ganze Zeit bis sie wieder zu Hause war dachte sie an nichts anderes als das Paket.

Sie öffnet die Kiste und nimmt den obenauf liegenden Brief heraus um ihn zur Seite zu legen. Er ist heute nicht wichtig.

Darunter kommen Kraniche zum Vorschein, sie weiß, dass es exakt hundert Stück sind. Einhundert verschieden große, aus buntem Papier gefaltete Vögel. Es war das wunderbarste Geschenk, das sie jemals bekommen hat, aber jetzt tut es weh, sie immer vor Augen zu haben. Zu viele Erinnerungen hängen daran.

Sie nimmt einen Luftballon aus der Packung, füllt ihn mit Ballongas und befestigt ein Stück Schnur daran. Dann greift sie in die Kiste und greift wahllos einen großen Kranich heraus, den sie an der Schnur befestigt. An einer Spitze hält sie ihn fest, streckt den Arm aus, lässt los. Sie trudeln davon, der knallrote Ballon und der grüne Papiervogel, und das Mädchen blickt ihnen nach. Das blasse Blau des Morgenhimmels erinnert sie an die Farbe, die die eigentlich grauen Augen ihrer Freundin manchmal annahmen, wenn das Licht auf eine bestimmte Weise auf sie fiel.

Sie holt einen weiteren Origami-Kranich hervor, befestigt ihn an einem Ballon und gibt ihn frei. Und noch einen und noch einen und noch einen. Und während der Himmel klarer wird und die Luft wärmer und die Box sich leert, erinnert das Mädchen sich.

Sie erinnert sich an das ansteckende Lachen der anderen, an ihr friedliches Gesicht beim Schlafen, an den Geruch ihrer weichen Haare. Sie erinnert sich an die Sonnenwärme auf ihrer Haut, den Duft von Pinien und Meer und die Kühle des Wassers. An die langen Gespräche, die sie führten, in der Hängematte und auf der Wiese vor dem Toilettenhäuschen und in der nächtlichen, dunklen Geborgenheit des Schlafzimmers. Sie erinnert sich an ihre eigenen Tränen der Eifersucht und an die Umarmung, die ihr gebrochenes Herz sofort wieder zusammensetzte. An den Sonnenaufgang, den sie gemeinsam beobachteten und wie sie um halb sieben als einzige wach waren und die Wassermelone vom vergangenen Abend aufaßen. Sie erinnert sich an den Sand in ihren Schuhen, als sie den Elbstrand entlang liefen, und an die Kälte, als sie im Februar einfach nur nebeneinander in der Nestschaukel lagen und redeten. Sie erinnert sich an die Verlegenheit nach ihrem ersten Kuss und an das wundervolle Gefühl, ihre Hand zu halten.

Sie erinnert sich aber auch an die Enttäuschung, wenn sie es schon wieder nicht schafften, miteinander zu telefonieren, an die Leere, ihre Wut auf sich selbst, als sie das „Ich liebe dich" ihrer Freundin einfach nicht erwidern konnte. An die Stille in der Telefonleitung, als sie Schluss machte, an ihre Tränen und ihre Trauer und ihr schlechtes Gewissen.

Ihre Hand greift ins Leere und sie taucht aus ihren Erinnerungen auf. Nur noch ein einziger Vogel liegt auf dem Boden der Kiste, es ist der mit dem Text „ihres" Liedes darauf geschrieben, des Liedes, das sie immer zusammen hörten. Sie überlegt einen Moment, dann schiebt sie ihn in ihre Jackentasche und lässt den letzten Luftballon alleine davon fliegen.

Ihre Tasche ist leicht, als sie sich auf den Heimweg macht, und ebenso leicht ist ihr Herz.

Das hier war ein Abschied.


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