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Nach dem Anruf hatte Harry für mich einen Beruhigungstee bestellt, während wir ohne weiter über die momentane Situation zu sprechen, den Supermanfilm anfingen. Allerdings nickte ich bereits nach einer dreiviertel Stunde ein und wurde dann später davon wach, als ich hörte wie jemand mit jemand anderes leise flüsterte.

Als ich die Augen langsam aufschlug, registrierte ich zunächst, dass der Fernseher ausgeschaltet war; draußen war es dunkel und das Hauptlicht im Zimmer schien ebenfalls nicht genutzt worden zu sein. Trotzdem war das Zimmer leicht erhellt und das Harry Kerzen angezündet hatte, bezweifelte ich.

Ich drehte mich auf der Matratze um und entdeckte, dass das Licht aus der Küche zu kommen schien. Genauso wie die leisen Stimmen, die leise miteinander tuschelten. Die Tür, die aus Glas war, war zu gedrückt, was erklären konnte, weshalb die Stimmen zusätzlich so gedämpft waren, dass ich wirklich kein einziges Wort zu verstehen vermochte.

Ich vermutete, dass eine dieser Stimmen Harry gehörte (zumindest hoffte ich das), aber die andere Stimme konnte ich mir einfach nicht erklären. Mit wem könnte Harry denn bitte sprechen? Mit dem Personal des Hotels würde er sich wohl kaum für einen Plausch in die Küche zurückziehen und soweit ich wusste, hatte Harry keine neue Bekanntschaft mit jemanden hier in LA gemacht, die ich nicht auch geschlossen hatte. Außerdem hätte ich ja gewusst, wenn man sich zu einem Treffen bei uns im Hotelzimmer entschlossen hätte. Vielleicht hatte ihm ja diese Anna heimlich ihre Nummer zugesteckt und jetzt, da ich geschlafen hatte, ist Harry langweilig geworden und er hat sie angerufen, um jemanden zum Sprechen zu haben.

Hatte sie ihm nicht sogar einen Zettel in die Hosentasche gesteckt? Ich meinte mich zu erinnern, dass sie genau das getan hatte (war mir aber nicht hundertprozentig sicher, da ich diese Handbewegung nur aus dem Augenwinkel gesehen hatte). Allerdings hieß das nicht, dass ich es tolerierte wie so ne unterbelichtete Schlampe einfach versuchte sich an meinen Harry ran zu machen. Und Harry war einfach zu lieb und nett, um jemanden aufdringliches wie sie einen Korb zu geben.

Kurz entschlossen rollte ich mich auf das andere, mein eigentliches, Bettende, setzte mich auf und ging mit nackten Sohlen großen Schrittes über den weichen Teppich zur Küche und riss diesie ohne lange zu zögern auf.

Harry saß mit dem Rücken zu mir und als ich eintrat, drehte er sich zu mir um.

Er lächelte; dennoch konnte ich erkennen, dass seine Augen rot geschwollen waren. Ziemlich offensichtlich hatte er geweint.

„Oh mein Gott, Harry! Was ist denn passiert?!"

Ich lief die wenigen Schritte zu ihm etwas schneller, nahm sein Gesicht in meine Hände und musterte ihn besorgt.

Er holte tief Luft, spannte sich an und öffnete seinen Mund. Allerdings schloss er diesen in der nächsten Sekunde wieder, seine Schultern sanken herab und er fing an zu zittern.

Er klammerte sich mit seinen Händen an meinem T-Shirt fest und vergrub dann sein Gesicht zwischen seinen verkrampften Fäusten an meinem Bauch und schluchzte.

Völlig verwirrt strich ich Harry über seinen Rücken und wandte mich erst dann der Person zu, die Harry gegenüber saß und uns bis gerade eben einfach nur stumm gemustert hatte.

Es war ein blondes Mädchen wie Anna. Aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf.

Und eigentlich war sie auch nicht wirklich ein Mädchen mehr, sondern eher eine junge Frau.

Ihre dunkelbraunen Augenbrauen hatte sie auf ihrer Stirn zusammengezogen und ihre braunen Augen sahen abwechselnd zwischen mir und Harry langsam hin und her.

Irgendwie kam sie mir bekannt vor.

Aber anstatt sie überhaupt erst einmal zu fragen wer sie überhaupt war, blaffte ich nur: „Was haben Sie Harry angetan?"

„Nicht", schluchzte Harry nur in mein T-Shirt und ihre Augen, die definitiv Sorge ausstrahlten, wanderten zu den gebrochen Jungen, der sich an mir festklammerte.

„Ich bin Gemma. Gemma Styles. Harrys Schwester.", kam es von ihr, während ich sanft mit meiner Hand durch Harrys weiche Locken fuhr.

Deswegen kam sie mir also so bekannt vor. Vielleicht einfach nur, weil sie Harry ähnlich sah, aber sie ist ja ebenfalls auf unsere Schule gegangen; nur hatte sie damals noch braune Haare gehabt.

Ich seufzte.

„Was ist denn passiert?", fragte ich leise und sah sie dabei an. Allerdings schaute sie mich nicht an, sondern weiter Harry.

Gemma schien mir keine Gefahr zu sein. Wenn Harry mir schon erzählt hatte wie sehr ihn sein Vater misshandelt hatte, hätte er es bestimmt auch nicht außen vorgelassen, wenn seine Schwester ihn ebenfalls wie Dreck behandelt hätte.

Und so wie sie Harry musterte, konnteich mir eigentlich ziemlich sicher sein, dass sie Harry, als ihren Bruder, aufrichtig liebte.

„Phil", fing Gemma an, woraufhin Harry an meinen Bauch wieder aufschluchzte. Aber Gemma fuhr trotzdem fort: „Phil hat sich gestern von einer Brücke gestürzt"

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt zugleich.

Ich hatte diesen Mann zwar nie persönlich gekannt, dennoch verspürte ich einen ungeheuren Hass auf ihn – einer musste es ja tun, wenn alle anderen seine Taten stumm mit ansahen und es offenbar tolerierten. Dennoch wusste ich nicht ganz genau was ich mit dieser neu gewonnen Information anfangen sollte. Sollte ich sie gut finden oder war es ethisch verkehrt diesen Tod gut zu heißen? War er überhaupt tot? Nur weil er von einer Brücke gesprungen war, musste es ja nicht heißen, dass er tot war. Vielleicht lag er auch bloß in einem Krankenhaus auf der Intensivstation.

„Ist er...?", fragte ich Gemma, aber ihr hängender Kopf und die leichten dunklen Tropfen, die auf die Holztischplatte fielen, beantworteten meine Frage von selbst. Offenbar war es nicht so einfach einen Unmensch, den man einmal angefangen hat zu lieben, zu hassen.

Ich fühlte mich immer noch merkwürdig.

Während Harry und Gemma hier trauerten und ich geistesabwesend Harry den Kopf streichelte, fragte ich mich, ob es denn überhaupt fair war diesen Mann in den Tod zu schicken. Nicht, weil ich unbedingt wollte, dass er weiter seine Taten nach Lust und Laune straffrei vollführte; aber war es nicht unfair ihn von einer möglichen Strafezu erlösen nach all' den Jahren, was er Harry angetan hatte? Der Tod war ja eine Art Erlösung, sowohl für diesen Bastard, als auch für den Rest seine Familie, vor allem für Harry. 

Dennoch wünschte sich ein kleiner Teil von mir trotzdem, dass er eine Art Bestrafung hätte bekommen sollen. Allerdings machte mir dieser Gedanke, menschlich gesehen, auch ein schlechtes Gewissen.

Aber war es denn wirklich so falsch einfach jemanden nicht ohne Strafe gehen lassen zu wollen, nachdem was er alles angestellt hat - einfach weil er es doch rechtmäßig so verdient hätte?

Ich seufzte in die Stille hinein.

Mir war klar, dass ich mir die Frage so oft stellen konnte wie ich wollte, aber es ändern konnte ich auch nicht mehr.

Phil war tot und auf seinem Grab rumtrampeln würde auch nichts bringen (außer vielleicht Empörung bei anderen Friedhofsbesuchern).

Ich wusste gerade einfach nicht wie ich damit umgehen sollte und hatte das Gefühl an diesem Gedanken zu verzweifeln.

Wer das meine Familie... Daisy!! 

Und was war jetzt bitte mit meiner Schwester? Was ist, wenn er sie, bevor er gestorben ist, als Rache für die „Diebe seines Sohnes" umgebracht und dann irgendwo tief in der Erde verschachert hat, wo sie nie jemand jemals finden würde?!

Oh Gott! Das konnte er doch unmöglich getan haben!! Mir wurde schlecht.


„Louis?", vernahm ich leise, hinter einem komischen Rauschen.

„Louis, rede mit mir!"

Aber im nächsten Moment wurde alles schwarz um mich herum.



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Désii xx

Rette Mich || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt