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Es waren vier Stunden vergangen und Harry und ich waren wieder im Hotel, obwohl Ellen uns auch angeboten hatte, dass wir ein Zimmer in ihrem Haus hätten bekommen könnten.

Harry schlief bereits, während ich lustlos auf meinem Handy im Internet surfte. Zu viel ging mir momentan durch den Kopf, als das ich einfach hätte einschlafen können. Zum einen war Daisy immer noch verschwunden; Lottie versprach mir mir sofort Bescheid zu sagen, sollte sie auftauchen, aber bis jetzt fehlte jede Spur von ihr. Aber wenigstens machte sich die Polizei langsam wirklich auf die Suche nach meiner kleinen Schwester. Obwohl man diesen unnützen Kerlen erklärt hatte, dass Daisy mit Sicherheit nicht weggelaufen war, wollten sie ihr vierundzwanzig Stunden 'Zeit lassen' - Ausreißer würden nämlich meistens immer wieder nach circa vierundzwanzig Stunden wieder auftauchen.
Die Überzeugung meiner Eltern, dass Daisy mit Sicherheit nicht abgehauen war, ließen die Polizisten nicht durchgehen.
Ich machte mir wirklich große Sorgen, dass dieser psychisch kranke Kerl meine kleine unschuldige Schwester entführt hatte und sie jetzt weiß Gott wo versteckt hielt.

Nachdem Anne ihren kleinen Monolog beendet hatte, ist erst einmal eine kleine Stille entstanden, die hin und wieder durch Gemmas leise Schluchzer unterbrochen worden ist. Hale war letztendlich derjenige, der das Wort wieder ergriffen hatte. Vorsichtig hatte er Gemma und Harry Nahe gebracht zu einem Therapeuten zu gehen. Uns war allen bewusst, dass Hale das keineswegs böse gemeint hatte, allerdings konnte ich Gemmas Reaktion dennoch etwas verstehen. Die Arme ist total ausgerastet, hatte ihn angeschrien - ihn als Unmenschen deklariert. Nach wie vor vertrat ich auch die Meinung, dass sowohl Harry als auch Gemma (vor allem Gemma, weil sie ja offenbar voll und ganz hinter Phils Verhalten stand) diese Therapie dringend nötig hätten. Phil hatte diese beiden Geschöpfe völlig zerstört. Aber auch Hales Einschub, dass Anne ebenfalls zum Therapeuten gehen würde, machte es für Gemma nicht besser. Harry hatte einfach gar nichts dazu gesagt, sondern weiter an meiner Schulter geweint.

Ich öffnete das Fenster der großen Glastür, die einen den Ausblick auf Los Angeles bei Nacht gewährte, setzte mich auf den Boden und zündete mir eine Zigarette an. Eigentlich hatte ich angefangen mit dem Rauchen aufzuhören, aber ganz schien das wohl nicht zu klappen. Dennoch musste ich ehrlich zugeben, dass mir das gerade herzlichst egal war, während ich in die angenehme kühle Nacht hinausschaute, wo mir kleine Sterne sanft entgegen leuchteten. Ich blies den Rauch aus, wartete kurz bis ich das leichte Kratzen im Hals spürte und wandte dann meinen Kopf wieder zu Harry, der selig schlummerte.

Ehrlicherweise musste ich zugeben, dass ich nicht wirklich schlau aus ihm wurde; immer noch nicht wusste was genau in ihm vorging und was er empfand.
Mir war mittlerweile mehr als deutlich klar, dass er in mich verliebt war und das auch schon relativ lang. Aber die Tatsache, dass er sowas wie - anders konnte man das nicht nennen - in seinen eigenen Vater verliebt war oder es vielleicht auch ist, hatte einen komischen Beigeschmack.
Ich nahm einen weiteren Zug.
Natürlich würde das nicht wirklich etwas an der Situation ändern - zumindest hoffte ich das. Allerdings musste ich zugeben, dass ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob Harry eventuell irgendwann wieder zu seinem Vater zurückgekehrt wäre, hätte dieser nur länger durchgehalten. Harry war jemand, der sich leicht um den Finger wickeln ließ; deswegen wunderte es mich auch ein wenig, dass Phil nicht über Dritte versucht hatte Harry umzustimmen.
Vielleicht hatte er wirklich begriffen, dass das, was er tat, alles andere als in Ordnung war.
Diese Krankheit, die er hatte, konnte ich persönlich nicht nachvollziehen - ich konnte es einfach nicht. Zu absurd war mir der Gedanke, dass überhaupt jemand an diesen Akten gefallen finden könnte.
Aber offenbar hatte ich genauso einen kennengelernt und mich in ihn verliebt.
Es war komisch. Es war wirklich komisch, aber obwohl Harry schon seit Jahren um mich herum anwesend war und ich ihn nie bemerkt hatte, hatte er mich so schnell in seinen Bann gezogen, sobald ich auch nur die erste Chance bekommen hatte, ihn zu erblicken - zu registrieren. So viele Jahre des Leidens hätte ich ihm ersparen können. Und dennoch... dennoch war ich mir zu unsicher. Nichts war, seitdem ich Harry wirklich kannte, noch normal in meinem Leben gewesen.
Allein die Erfahrung mit jemanden die Bekanntschaft zu schließen, der so eine Familie hat, hatte mein Weltbild um neunzig Grad gedreht. Aber es kam ja auch noch zusätzlich hinzu, dass ich es einfach wunderlich fand wie schnell ich einem Menschen verfallen konnte.
Ich würde nicht direkt sagen, dass ich das absolut schlimm fand. Jedoch war es mir eine große Frage, ob es wirklich schlau und gesund für mich selbst war für jemanden so schnell Gefühle zu entwickeln, der so anders war, als ich es bisher von anderen Menschen gewöhnt war. Der so eine komplett andere Vorgeschichte hatte, die mich komplett mit reinzog und zum Teil sogar überforderte.

„Fuck!", fluchte ich leise und schmiss die aufgerauchte Zigarette von mir weg nach draußen.
Wie könnte ich bitte in der Lage sein jemanden zu lieben, der eventuell sogar noch jemanden anderen liebt? Vor allem wenn der andere auch noch dessen eigener Vater war? Das ganze war doch einfach zu skurril. Meine Güte, viel zu unwirklich, als das ich es selbst glauben könnte.

Ich schüttelte meinen Kopf. Nein. Ich durfte nicht darüber nachdenken Harry lieben zu können. Zwar war ich mir sicher, dass ich Gefühle für ihn entwickelte, die alles bisherige Erlebte steigerten. Jedoch war es mir zu überfordernd wie ich in Zukunft mit Harrys Vergangenheit klar kommen könnte. Ich wollte ihm nicht etwas versprechen, was ich nicht halten könnte.
Zu groß war meine Angst, dass er daran zerbrechen könnte. Die Sache mit seinem Vater hatte ihm schon so viel zugemutet, konnte ich ihm da dann noch ein Versprechen brechen? Das Risiko wäre wirklich groß, dass er daran zerbrechen könnte. Damit will ich nicht sagen, dass er von mir abhängig ist. Es hätte jeder andere Kerl genauso sein können.
Wäre es dann nicht besser, wenn ich das mit Harry so frühzeitig wie möglich beendete? Bevor noch mehr Schaden entstand? Er würde sowieso in Therapie gehen. Vielleicht würde er mich vergessen.
Ich denke, das wäre besser für ihn. Harry muss anfangen mehr an sich zu denken; auf sich selbst zu achten.
Da wäre ich doch nur ein Störfaktor.

Wieder einmal schüttelte ich meinen Kopf. Wie lächerlich und genauso unlogisch ich doch war. Erst rettete ich Harry wortwörtlich von der Straße, nahm ihn, unter der Gefahr von der Polizei oder dergleichen erwischt zu werden, zusammen mit meiner Familie bei uns auf, nehme ihn sogar mit in den Urlaub und will ihn dann einfach so fallen lassen?
Ich habe fast alles für ihn aufs Spiel gesetzt und jetzt wollte ich das alles hinschmeißen? Das war doch wirklich albern. Aber genauso albern erschien es mir, das alles überhaupt gemacht zu haben. Welcher normaler Mensch würde das bitte tun?!

Verzweifelt raufte ich meine Haare, als ich bemerkte, dass Harry sich leicht bewegte. Ich beobachtete ihn.
„Dad?", murmelte Harry leise und drehte seinen Körper so, sodass dieser zu mir gewandt war. Seine Augen waren allerdings immer noch verschlossen.
„Natürlich liebe ich dich."
Harry pausierte, als hätte ihn jemand abgebrochen.
„Oh. Du weißt es schon. Ja, ich liebe dich, Daddy. Aber nicht mehr so. So liebe ich nur noch Louis. Er macht mich so glücklich. Ich fühle mich endlich angekommen."
Pause.
„Dad, es tut mir Leid."
Pause.
„Nein, es braucht dir nicht Leid tun. Du konntest doch nichts dafür."
Pause.
„Ich hoffe doch."
Pause.
„Du denkst er würde mich verlassen?"
Auf einmal klang Harrys Stimme total panisch. Aus Reflex sprang ich direkt auf und näherte mich dem Bett.
„Nein, er darf mich nicht verlassen!"
Ich sah, dass einzelne Tränen aus seinen geschlossenen Lidern flossen.
„Harry", flüsterte ich und rüttelte leicht an seiner Schulter.
„Nein! Nein!", heulte Harry auf und schlug im nächsten Moment seine Augen weit auf.
„Harry!"
Harry krallte sich an meinem T-Shirt fest und zog mich zu sich runter. Seine vor Tränen glänzenden Augen durchbohrten mich.
„Willst du mich verlassen?", fragte er leise mit zitternder Stimme.
„Harry..."
„Du verlässt mich?"
Sein Griff lockerte sich, er drehte sich von mir weg, rollte sich zusammen und fing an in mein Kissen zu schluchzen.
Bei dem Anblick brach mein Herz in zehntausend Stücke.
„Harry, nein!"
Er reagierte nicht.
Verzweifelt kroch ich hinter ihm ins Bett, umfasste mit meinen Armen von hinten seinen Körper und drückte ihn beschützend an mich.
„Harry, ich bleib bei dir"
Sein Zittern hörte langsam auf.
„Wirklich?"
„Ja. Ich werde dich nicht verlassen.", flüsterte ich in seinen Nacken und presste ihn, soweit wie möglich, noch näher an mich heran.
„Versprochen?"
„Versprochen."

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Désii xx

Rette Mich || LarryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt