1. Regen

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Der Regen prasselte gegen die Fenster. Kalter Wind peitschte um die Dächer und ließ die Außenwelt in Schleiern aus Grautönen verschwimmen.
Ich saß reglos auf meinem Bett, die Arme um die Beine geschlungen und blickte hinaus in das kalte, trostlose London der frühen Morgenstunden. Bis auf das Trommeln der Regentropfen und das gelegentliche Rattern eines vorbeirauschenden Zuges war nichts zu hören. Ich musste unwillkürlich lächeln. In ein paar Stunden würde ich im Zug sitzen und meine Freunde wieder treffen, auf dem Weg nach Schloss Hogwarts. Doch es war nicht die selbe vorfreudige Stimmung wie die Jahre zuvor. Etwas Düsteres lag in der Luft. Die Nachricht, dass Sirius Black vor wenigen Wochen aus Askaban geflohen war, lastete wie Blei auf den Gemütern und wie um den Menschen das eingefallene, schattenhafte Gesicht des Massenmörders für immer in die Gedächtnisse einzubrennen waren überall Fahndungsplakate aufgetaucht, sowohl in der Muggelwelt, als auch in den Schaufenstern der Winkelgasse. Wo auch immer man hinkam, Blacks Flucht war Gesprächsthema Nummer eins.
Ein leises Geräusch auf dem Schrank ließ mich aufblicken. Sam, meine Sperbereule, trippelte leicht mit den Füßen und raschelte unruhig mit den Flügeln. Mit halboffenen, gelben Augen blickte er träge zu mir hinab, ehe er sich leicht von mir wegdrehte und den Kopf einzog. Auch ich wandte mich ab und sah wieder aus dem Fenster. Noch einmal war ein Flügelrascheln vom Schrank her zu hören, dann herrschte Stille. Und wieder war nur noch der Regen zu hören, der sanft gegen das Fenster trommelte.
Ich hatte mir ein Zimmer im Tropfenden Kessel gemietet, wo ich auch die letzten Nächte verbracht hatte. Ich war mit dem Zug hierher gekommen, zusammen mit meinen Eltern. Wir wohnten weiter im Norden, im Süden Schottlands. Zwar lag Hogwarts hoch in den schottischen Highlands, doch der Hogwarts-Express hatte nur eine Haltestelle: King's Cross in London. Es war zugegebenermaßen etwas umständlich, jeden Sommer nach London fahren zu müssen, obwohl Hogwarts so nahe unserer Heimat lag. Doch mir machte das am wenigsten aus. Ich mochte Zugfahrten.
Aber auch meine Eltern hatten es genossen, einmal wieder die Winkelgasse zu besuchen. Sie hatten die letzten Tage mit mir verbracht, ehe sie gestern am späten Nachmittag abgereist waren, zurück nach Schottland. Dorthin, wohin auch ich in wenigen Stunden auf dem Weg sein würde.
Ich streckte die Beine aus und ließ mich auf die Matratze sinken, während ich die Arme hinter meinem Kopf verschränkte. Das alte Holzbett knarzte. Ich schloss die Augen und lauschte dem Regen, der langsam nachließ. Wenige Minuten später war ich in einen leichten Dämmerschlaf gesunken.

Als ich aufwachte, fiel Licht in das Zimmer. Es hatte zu regnen aufgehört. Sam trippelte auf dem Schrank unruhig hin und her und schrie leise.
Ich setzte mich auf und streckte die Arme. Dann stand ich langsam auf und lief hinüber zum Schrank. Sam hielt in seinem hibbeligen Getue inne und blickte mich aus großen Augen an. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streichelte leicht sein grau-weißes Gefieder. Er schmiegte sich einen Moment lang gegen meine Hand, ehe er davonhüpfte und erneut ungeduldig schrie.
Ich seufzte und lief um den Schrank herum, um meiner hyperaktiven Eule den Arm anzubieten. »Na komm«, sagte ich und Sam hüpfte glücklich auf meinen Arm. Lächelnd kraulte ich ihn am Kopf, während ich ihn zum Fenster trug. »Aber bleib nicht zu lange weg«, sagte ich, während ich das Fenster öffnete und Sam begann, auf meinem Arm vorfreudig hin und her zu hüpfen. »Wir müssen bald los.«
Sogleich flog er hinaus und war innerhalb weniger Sekunden aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich schloss das Fenster und wandte mich meinem Koffer zu. Nachdem ich meine restlichen Sachen gepackt hatte, machte ich mich auf den Weg nach unten in den Salon des Tropfenden Kessels, um zu frühstücken.
Eine dampfende Suppe und ein Glas Maracujasaft später ging ich wieder auf mein Zimmer, um mein Gepäck zu holen. Ich schnappte mir meine Jacke vom Stuhl und stöhnte genervt auf, als ich meinen blauen Ravenclaw-Pullover auf dem Bett liegen sah. Seufzend öffnete ich den Koffer erneut und versuchte, den Pulli zwischen die Bücher und Umhänge zu stopfen. Ein gedämpftes Knurren ertönte vom Boden des Koffers.
Dort lag, mit viel Zauberklebeband gebändigt, das Monsterbuch der Monster. Der Verkäufer bei Flourish & Blotts hatte fast einen Nervenzusammenbruch erlitten, als ich mich nach dem Buch erkundigt hatte. Nun, da nur noch die Schüler, die das Fach als UTZ-Kurs belegt hatten, in Pflege magischer Geschöpfe unterrichtet wurden, war Professor Kesselbrandt wohl zu dem Schluss gekommen, wir wären bereit, uns genauer mit den gefährlicheren Geschöpfen zu befassen. Dass wir Schüler uns vielleicht seelisch darauf vorbereiten wollten, mit was genau wir es im diesjährigen Unterricht zu tun haben würden, ohne dabei die Finger abgerissen zu bekommen, hatte der alte Professor wohl nicht bedacht. Beim Gedanken an die kommenden Stunden in Pflege magischer Geschöpfe verspürte ich deshalb nicht nur gespannte Aufregung, sondern auch ein wenig Nervosität im Angesicht der unbekannten 'Monster', mit denen wir dieses Jahr konfrontiert werden würden. Doch im Grunde war Professor Kesselbrandt ein guter Lehrer. Er wusste mit den Geschöpfen durchaus umzugehen, auch wenn er im Laufe seiner Karriere dabei einige seiner Gliedmaßen einbüßen hatte müssen. Ich hätte eher Grund zur Beunruhigung, wäre Hagrid unser Lehrer.
Nur mit Mühe und unter Einsatz meines gesamten Körpergewichtes hatte ich es schließlich geschafft, den Koffer wieder zu schließen. Ich steckte den Zauberstab in die weite Tasche meiner Jogginghose. Einen besseren Aufbewahrungsort hatte ich nicht, da ich ihn aus schlichter Angst, er könne zerbrechen, nicht in den überfüllten Koffer gesteckt hatte. Ich zog die Hose gerne auf lange Zugfahrten an, aus dem schlichten, jedoch nicht zu unterbewertenden Grund, dass es einfach so viel gemütlicher war als mit Alltagsklamotten zu reisen.
Nachdem ich ein letztes Mal unter das Bett gesehen hatte, um sicherzustellen, dass ich nichts vergessen hatte, ließ ich mich auf die weiche Bettdecke nieder und wartete auf meine Eule. Ich hatte noch genügend Zeit, zum Bahnhof zu kommen daher musste ich mich nicht abhetzen. Stattdessen begann ich, meine dunkelblonden Haare zu einem Zopf zu flechten.
Als Sam nach einigen Minuten immer noch nicht zurückgekehrt war, beschloss ich, nicht länger auf ihn zu warten. Er kannte den Weg nach King's Cross und es hatte keinen Sinn, sich hier zu langweilen, nur weil meine eigensinnige Eule meinte, sich wieder einmal verspäten zu müssen.
Ich stand auf, hängte mir meine Umhängetasche über die Schulter, nahm den leeren Eulenkäfig in eine Hand und schleifte mit der anderen den schweren Koffer zur Tür. Gerade als ich sie geöffnet hatte, hörte ich ein Klopfen eines Schnabels auf Glas und einen gedämpften Schrei vom Fenster her. Der werte Herr hatte sich also doch noch hierherbequemt. »Ich komme gleich nach unten!«, brüllte ich ins Zimmer und bugsierte den Koffer aus dem Raum. Als ich die Tür hinter mir schloss, sah ich ein Zimmermädchen vor mir stehen, das mich etwas verstört anblickte. Ich lächelte ihr zu und zerrte den Koffer um eine Ecke, wobei er hängenblieb und umkippte. Fluchend ließ ich den leeren Eulenkäfig zu Boden fallen und wandte mich um, um den Koffer wieder aufzustellen. Das Zimmermädchen verschwand mit verängstigtem Blick in einem der Räume.
Mit lautem Gepolter lief ich, den Koffer hinter mir herziehend, die Treppe hinunter und trat schließlich aus dem Tropfenden Kessel in das London der Muggelwelt.

Flying high means falling farWo Geschichten leben. Entdecke jetzt