6. Eulenpost

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Als wir die Große Halle betraten, saßen Tara und Sylvia bereits am Ravenclaw-Tisch. Wir gesellten uns zu ihnen und wurden von einer breit grinsenden Tara empfangen.
»Und, was hattet ihr gerade?«
»Ach, halt den Mund ...«, erwiderte ich und boxte sie leicht gegen die Schulter.
»Hattet ihr etwa Alte Runen? Eine Doppelstunde, wenn ich mich recht entsinne-«
»Wenn du nicht aufhörst, gibt es hier bald Verletzte«, sagte ich mit drohendem Unterton in der Stimme.
»Und weißt du, was wir hatten?«, fuhr Tara unbeirrt fort. »Eine doppelte Frei-«
Der Rest ihrer Worte ging in einem Aufschrei unter, als ich kurzerhand jemandes Glas nahm und den darin enthaltenen Kürbissaft über Taras Schnitzel kippte.
»Was sollte das?!«, rief Tara, während Sylvia und Vivien sich vor Lachen nicht mehr einkriegten.
»Ich hatte dich gewarnt«, erwiderte ich.
Tara schob den Teller mit dem in Kürbissaft schwimmenden Schnitzel und den labberigen, vollgesogenen Pommes zu mir hinüber.
»Das isst du«, forderte sie.
»Nein.«
»Du isst das jetzt!«
»Ich denk nicht dran«, beharrte ich. »Das hast du dir selbst eingebrockt.«
Sie warf mir einen bösen Blick zu, ehe sie ihren Zauberstab hervorholte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, sie wolle mich verhexen, doch stattdessen richtete sie ihn auf den Teller.
»Evanesco.«
Das Essen verschwand. Grummelnd nahm sie sich ein neues Schnitzel und stellte die Schüssel absichtlich weit von mir weg.
Nach dem Mittagessen machten wir uns gemeinsam auf den Weg zum Schulhof, wo wir uns auf dem gepflasterten Boden niederließen. Die Sonne schien und bis auf einige Wolken deutete nichts mehr auf den gestrigen Regen hin. Ich genoss die Wärme, auch wenn der kühle Wind den nahenden Herbst bereits erahnen ließ.
Weder Tara, noch ich waren ernsthaft böse aufeinander. Solch kleine Rangeleien waren bei uns an der Tagesordnung, auch wenn sie selbst es bisher noch nicht gewagt hatte, mein heißgeliebtes Essen in unsere Streitereien miteinzubeziehen.
Als die Schulglocke den Nachmittagsunterricht ankündigte, stand ich nur widerstrebend auf, um mich mit den anderen auf den Weg zu Verteidigung gegen die dunklen Künste zu machen.
Das Klassenzimmer stand offen, als wir ankamen. Wir setzten uns und packten unsere Bücher aus. Nach einer Weile kam auch Professor Lupin herein. Er lächelte uns zu und legte seine Aktentasche auf das Lehrerpult. Mir fiel auf, dass der Umhang, den er trug, an mehreren Stellen geflickt war. Auch er selbst wirkte nicht ganz gesund; er sah ausgezehrt und müde aus.
»Schönen Tag«, sagte er. »Würdet ihr bitte eure Bücher weglegen und mir zuhören.«
Die Klasse tat wie geheißen.
»Schön. Nun, unser erstes Thema stellt einen wichtigen Teil eurer magischen Ausbildung dar und wird in Zukunft in den anderen Fächern vorausgesetzt. Ich bitte euch daher, besonders aufzupassen. Ich bin sicher, wenn ihr euch anstrengt, kann es jeder von euch schaffen.«
Er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr:
»In den nächsten Stunden behandeln wir ungesagte Zauber. Wer kann mir sagen, was ein ungesagter Zauber ist und wann man ihn einsetzt? Tara?«
»Bei einem ungesagten Zauber wird die Zauberformel nicht ausgesprochen. Ungesagte Zauber werden benutzt, damit der Gegner nicht weiß, welchen Zauber wir gegen ihn einsetzen.«
»Absolut richtig. Fünf Punkte für Ravenclaw.«
Ich schlug unter dem Tisch mit Tara ein.
»Ungesagte Zauber werden in Duellen eingesetzt«, fuhr Professor Lupin fort. »Dort können sie euch sehr nützlich sein, da euer Gegner nicht auf euren Zauber vorbereitet ist. So habt ihr den Überraschungsmoment auf eurer Seite.«
Er schritt nun vor der Klasse auf und ab.
»Wir werden heute mit einem einfachen Zauber anfangen, dem Wingardium Leviosa
Einige Slytherins lachten spöttisch, doch Professor Lupin lächelte nur milde:
»Euch mag es vielleicht lächerlich erscheinen, doch es ist für euch am leichtesten, wenn ihr mit diesem Zauber zu üben beginnt. Ihr kennt die Formel seit der ersten Klasse und habt die Zauberstabbewegung bereits so verinnerlicht, dass ihr euch ganz auf den ungesagten Zauber konzentrieren könnt. Ich möchte nun, dass ihr euch die Formel in den Kopf ruft und sie immer wieder gedanklich vor euch aufsagt. Konzentriert euch dabei darauf, den Zauber wirklich ausführen zu wollen. Ihr müsst die Worte verinnerlichen. Versucht, an nichts anderes zu denken.«
Er schritt zwischen den Reihen umher.
»Lasst euch durchströmen von dem Wunsch, dieses Buch vor euch fliegen zu lassen. Ihr könnt die Augen schließen, wenn ihr wollt. Mir ist es damals so einfacher gefallen. Nehmt nun bitte die Zauberstäbe heraus und versucht euch daran. Ihr habt noch nie mit ungesagten Zaubern gearbeitet, und vielen fällt die Umstellung anfangs schwer. Lasst euch nicht entmutigen.«
Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Immer wieder rief ich mir die Formel ins Gedächtnis, doch die gemurmelten Zauber meiner Mitschüler lenkten mich ab. Neben mir hatte Tara die Augen geschlossen und holte mit dem Zauberstab etwas zu weit aus, sodass sie beinahe mein Buch vom Tisch fegte. Sylvia zu meiner anderen Seite hatte den Blick fest auf den Zauberstab geheftet und bewegte stumm die Lippen, während sie den Zauberstab umklammerte, als wäre es ein rettender Strohhalm.
Ich sah mich in der Klasse um und musste bei dem Anblick unwillkürlich grinsen. Würde uns jemand sehen, der nicht wusste, was wir hier übten, er würde uns allesamt für verrückt erklären.
Gegen Ende der Stunde schaffte es Gregory Boot, sein Buch für einige Sekunden schweben zu lassen, ohne den Zauberspruch auch nur zu murmeln, was Ravenclaw erneut fünf Punkte einbrachte.
Als wir das Klassenzimmer zum Stundenende verließen, war ich dennoch zufrieden mit mir. Ich hatte mein Buch dazu gebracht, für einen kurzen Moment einen Zentimeter über dem Tisch zu schweben, wohingegen Tara ihres lediglich vom Tisch gefegt hatte. Doch wir alle waren zu dem Schluss gekommen, dass Professor Lupin ein durchaus fähiger und netter Lehrer war.
Hinter uns hörten wir verächtliche Stimmen. »Lasst euch durchströmen, verinnerlicht die Worte! Was für ein Stuss.«
Eine Gruppe von Slytherins zog an uns vorbei. Gesprochen hatte Bole, eine breit gebauter Sechstklässler.
»Wird Zeit, dass endlich Snape die Stelle bekommt, das ist ja nicht mehr auszuhalten«, sagte ein anderer, ehe sie um eine Ecke bogen und verschwanden.
»Na dann ...«, sagte Tara schwermütig.
»Sehen wir uns nachher«, sagte ich.
Mit diesen Worten folgte Tara den Slytherins. Sie hatte nun erneut eine Doppelstunde Zaubertränke. Ich verkniff mir, ihr noch ein »Viel Spaß!« hinterherzurufen. Stattdessen machte ich mich mit Vivien und Sylvia auf den Weg zu unserem Gemeinschaftsraum. Unser Schultag war nun zu Ende.
In dem großen, hellen Raum angekommen setzte ich mich an einen der Tische, kramte meine Runen-Bücher hervor und begann, eine knifflige germanische Grabeinschrift zu übersetzen. Resigniert strich ich dabei immer wieder Sätze durch, die einfach keinen Sinn ergeben wollten. Schließlich ließ ich den mittleren Teil aus und übersetzte den Schluss. Mit dem Gedanken, die Übersetzung ins Reine zu schreiben, sobald ich sie fertig hatte, schlug ich nach einiger Zeit das Buch zu und suchte in den Regalen an den Wänden nach einem passenden Buch, das mir helfen könnte. Wie erwartet wurde ich nicht fündig. Die Auswahl war bei Weitem nicht so groß wie in der Schulbibliothek und die Bücherregale im Ravenclaw-Turm unfassten nur eine gewisse Grund-Lektüre. Also beschloss ich, der Bücherei einen Besuch abzustatten und dort meine Übersetzung fertig zu schreiben.
Wenige Minuten später kam ich sechs Stockwerke tiefer in der Schulbibliothek an. Als ich eintrat, empfing mich sofort die leicht muffige Luft und der staubige Geruch alter Bücher. Die Bücherei war fast leer. Nur wenige ältere Schüler waren anwesend, die an den kleinen Tischen zwischen den Bücherregalen saßen. Es herrschte eine angenehme Ruhe.
Ich schloss die Tür hinter mir und ging die Regalreihen entlang. Unbewusst bewegte ich mich langsamer, behutsamer. Es war, als läge ein alter Zauber über den Regalen, der mich durch seine Stille veranlasste, mich selbst leise zu bewegen. Vielleicht hatte mir aber auch die jahrelange Anwesenheit der geierhaften Bibliothekarin Madam Pince eine Art schlechtes Gewissen antrainiert. Als Schutz sozusagen. Niemand legte sich gerne mit Madam Pince an. Doch ob es nun Magie war oder nicht, über den uralten Bücher lag zweifellos etwas geheimnisvolles, etwas magisches.
Ich ging ein Regal mit alten, germanischen Büchern entlang und fuhr währenddessen mit dem Finger über die teils vergilbten Titel auf den staubigen Buchrücken. Meine gedämpften Schritte wurden langsamer, als ich eines herauszog und es im Stehen durchblätterte. Nichts. Mit einem dumpfen Geräusch stellte ich es wieder in das Regal, ehe ich ein neues Buch hervorzog. Mit einem vielversprechendem Exemplar unter dem Arm setzte ich mich schließlich an einen der Tische und packte meine Runenübersetzung aus.
Eine geschlagene Stunde später hatte ich die Übersetzung sowie die dazugehörige zwanzig Zoll lange Interpretation fertig und ließ den Kopf kraftlos auf das Buch vor mir fallen. So blieb ich eine Weile sitzen, bis ich die unheilvoll klackenden Schritte Madam Pince' näherkommen hörte und hastig den Kopf von ihrem heißgeliebten Buch hob. Die Schritte hielten inne und ich war mir sicher, ihren Atem im Nacken spüren zu können. Langsam drehte ich den Kopf nach hinten und rutschte mit meinem Stuhl ein wenig nach vorne, als ich das eingefallene, pergamentartige Gesicht der Bibliothekarin meinem Geschmack nach einige Zentimeter zu nah an meinem eigenen erblickte. Ich lächelte schwach und machte mich daran, meine Übersetzung aufzurollen.
Madam Pince lächelte nicht. Sie starrte mich lediglich misstrauisch an, ehe sie blitzschnell unter meinen Arm hindurchgriff und das alte Runen-Buch packte. Während sie sich mit raschen Schritten von mir entfernte, strich sie immer wieder mit denn Fingern über den Einband des Buches, wie um es von Schmutz zu befreien.
Ich packte meine Sachen zusammen und verließ rasch die Bibliothek, auf den Weg in den siebten Stock. Die Bibliothekarin war mir nach wie vor nicht ganz geheuer.
Meine Tasche brachte ich in den Ravenclaw-Turm, ehe ich auf schnellstem Weg in die Eulerei lief, die ebenfalls in einem der Türme an der Westseite des Schlosses lag.
Als ich den luftigen, mit Stroh ausgelegten Raum betrat und suchend meinen Blick über die vielen Eulen schweifen ließ, breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. Dort, zwischen zwei schlafenden Schleiereulen, saß der große, graue Bartkauz meiner Eltern. An seinem Bein hing ein Paket. Er erkannte mich sofort und flog auf mich zu. Ich hielt ihm meinen Arm entgegen, auf dem er flügelflatternd landete. Ich versuchte eine Weile erfolglos, den Knoten mit einer Hand zu lösen. Der Kauz trippelte über meinen Arm auf meine Schulter und machte es sich dort bequem. Da ich nun auch die linke Hand frei hatte, konnte ich das Päckchen von seinem Bein losbinden und öffnete es. Zum Vorschein kam mein magisch verkleinerter Sauberwisch sieben. Handlicher, aber auch zerbrechlicher. Daher empfand ich es als sicherer, ihn dennoch per Eule zu schicken, als ihn mit in den Zug zu nehmen.
Ich strich dem Kauz über das Gefieder.
»Heute hab ich keinen Brief für dich«, erklärte ich ihm entschuldigend.
Normalerweise nutzte ich diese Gelegenheit, um meinen Eltern in ein paar Zeilen zu schreiben, dass ich gut angekommen war. Doch heute war ich nicht dazu gekommen.
Unsere Familieneule, deren Name über 'Kauzi', 'Kauzilein' und 'Barti' (meine persönliche Lieblingsvariante) bis hin zu einem schlichten 'EULE!' variierte, klackerte mit dem Schnabel.
Mit der plötzlichen Erkenntnis, dass ich etwas vergessen hatte, fügte ich etwas zerknirscht hinzu: »Und Eulenkekse hab ich leider auch keine dabei ...«
Einen Flügelschlag später hatte sich Barti nicht gerade sanft von meiner Schulter abgestoßen und flog ohne Umschweife aus einem der hohen Fenster.
Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen rieb ich mir die Schulter, ehe ich mich meinem Miniatur-Besen zuwandte und den Zauberstab aus dem Umgang zog.
»Engorgio.«
Der Besen dehnte sich aus, bis er seine ursprüngliche Größe erreicht hatte.
Übers ganze Gesicht grinsend schulterte ich meinen Besen und machte mich auf den Weg hinunter zum Quidditch-Feld.


Flying high means falling farWo Geschichten leben. Entdecke jetzt