9. Bücher

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Warme Luft strömte aus meinem Zauberstab und ließ meine nassen Haarspitzen langsam trocknen.
Wir saßen in unserem Gemeinschaftsraum. Das Feuer im Kamin vor uns warf seinen warmen Schein auf unsere Gesichter und Regen prasselte gegen die hohen Fenster des Ravenclaw-Turms.
Ich saß in einem der gemütlichen, dunkelblauen Sessel vor dem Feuer und las meinen fast fertigen Verwandlungsaufsatz durch, während ich meine Haare magisch trocknete. Neben mir versuchte Tara verzweifelt, die Wasserflecke auf ihrem Aufsatz mit ihrem Zauberstab wegzusaugen, ohne dabei die Tinte verschwinden zu lassen. Vivien las wieder ihr Buch, während Sylvia eine halbe Bibliothek um sich verstreut hatte und Informationen zur Handaufzucht von Tentakula-Ablegern heraussuchte.
Es war warm und behaglich. Ich blickte aus dem Fenster in das trübe, undurchdringliche Grau und beobachtete die Regentropfen, die immer heftiger gegen die Scheiben prasselten, während der Himmel draußen stetig dunkler wurde.
Ich wusste nicht, ob es an den Dementoren lag, oder am Regen, doch ich fühlte mich eigenartig trostlos. Und obwohl ich ein Mensch war, der von Natur aus gerne zu wetterbedingter Melancholie neigte, hatte ich das Gefühl, dass die alleinige Anwesenheit der Dementoren, auch wenn sie zu weit entfernt waren, um uns etwas anzuhaben, eine düstere Stimmung verbreitete.
Ich versuchte, mich wieder auf Verwandlung zu konzentrieren, doch es gelang mir nicht, weshalb ich den warmen Luftstrom aus meinem Zauberstab versiegen ließ und den Aufsatz zusammenrollte und einpackte. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich mit dem Versuch, eines von Sylvias Büchern mit ungesagten Zaubern zum Schweben zu bringen. Einige jüngere Schüler beobachteten stirnrunzelnd, wie ich wortlos mit dem Zauberstab herumfuchtelte, was ich mehr oder weniger gekonnt zu ignorieren versuchte. Als ich das Buch schließlich nach etlichen Versuchen erfolgreich in die Luft befördert hatte, warf ich ihnen einen triumphierenden Blick zu, wobei das Buch prompt wieder zurück auf den Tisch krachte und dabei fast Taras Aufsatz zu Boden riss.
Langsam hatte ich den Bogen raus. Sylvia, die über einem sehr alten und zerpflückten Exemplar von Tausend magische Kräuter und Pilze brütete, nahm kaum Notiz davon, während Vivien sich fast zu Tode erschreckte, als ich das Buch um ihren Kopf schwirren ließ.
Der Regen hatte etwas nachgelassen, als wir uns um halb acht auf den Weg in die Große Halle zum Abendessen machten. Die verzauberte Decke zierte ein trübes Grau. Nur vereinzelt ließ das Dämmerlicht einen Wolkenfetzen in einem schwachen, rötlichen Ton aufleuchten.
Die ausgelassene Stimmung in der Großen Halle ließ mich meine trübsinnigen Gedanken verdrängen. Immerhin war Wochenende, ich hatte einen Großteil meiner Hausaufgaben bereits erledigt und kam mit dem ungesagten Zaubern gut voran. Und doch konnte ich nicht umhin, während des Essens meinen Blick immer wieder leicht trübselig nach oben schweifen zu lassen. Wenn das Wetter nicht besser wurde, konnte ich das Fliegen am Wochenende vergessen.
Nach dem Abendessen machten wir uns auf den Weg in den Ravenclaw-Turm, wo wir wieder unsere Stammplätze im Gemeinschaftsraum einnahmen.
Ich hatte beschlossen, es für heute mit den Hausaufgaben gut sein zu lassen und schnappte mir stattdessen Sylvias Treiberfibel . Nach kaum zehn Minuten warf Sylvia mit einem »Genug für heute!« ihre Feder beiseite und verlangte ihr Buch zurück. Murrend warf ich es ihr zu. Gelangweilt sah ich ihr dabei zu, wie sie es auf der Suche nach der richtigen Seite durchblätterte, ehe ich einen Entschluss fasste und schwungvoll aufstand. Ich wollte in die Bibliothek. Dieser Plan wurde jedoch kurzzeitig von meinem Kreislauf durchkreuzt, dem das schnelle Aufstehen so gar nicht gefiel und der nun schwarze, wirbelnde Punkte vor meine Augen schickte. Einige Augenblicke lang wankte ich auf der Stelle, bis sich mein Blick wieder aufklärte und ich in Taras amüsiertes Gesicht sah.
»Und, wie viel Butterbier hatten wir denn heute schon?«
Ich ignorierte ihren Kommentar und fragte stattdessen in die Runde:
»Ich geh in die Bibliothek. Kommt jemand mit?«
Kopfschütteln.
»Nee.«
»Is grad so gemütlich hier.«
Vielen Dank auch.
»Na schön«, sagte ich schwermütig und lief zur Tür des Gemeinschaftsraumes. Ich trat auf den verlassenen Korridor und mein Blick fiel auf den Weg vor mir. Diese Treppen musste ich nachher wieder hochlaufen. Spontan besann ich mich anders und drehte mich zu der Tür um, die sich soeben wieder in Stein verwandelte. Ich hatte gerade die Hand nach dem Türknauf ausgestreckt und wollte die Tür öffnen, als ebendiese aufflog und ich mit einer verdutzten Tara zusammenstieß.
»Wow.«
»Lange nicht gesehen.«
»Witzbold. Ich komm doch mit.«
Typisch Tara. Genauso unentschlossen wie ich. Also doch Treppen laufen.
In der Bibliothek war es fast leer. Ich streifte durch die Regale, auf der Suche nach einem vielversprechend aussehenden Buch, während Tara sich an einen Tisch am Ende einer langen Regalreihe setzte. Im Stehen blätterte ich einige der Bücher durch, bis ich mich für ein Buch mit dunklem Lederumschlag entschied. Auf den ersten Blick sah der Einband schwarz aus, doch als ich genauer hinsah, bemerkte ich dünne, dunkelgrüne Farbstreifen, die sich spiralförmig auf dem Umschlag bewegten, ehe sie verschwanden, als ob sie von dem Buch eingesogen wurden. Die silbrig-dunkelgrün schimmernden Lettern auf dem Einband bildeten wie Tentakel ineinander verschlungen den Titel Grausige Wesen der Tiefe.
Ich setzte mich zu Tara, die sich scheinbar auch ein Buch geschnappt hatte, und begann zu lesen. Nach nur kurzer Zeit war ich vollkommen gefesselt. In dieser Hinsicht konnte ich Hagrid verstehen. Monster faszinierten mich. Es faszinierte mich von diesen Kreaturen zu lesen, die dort irgendwo in der Tiefe des Meeres lebten und von kaum einem Menschen je gesehen wurden. Der Punkt, in dem sich meine Faszination für Monster grundlegend von Hagrids unterschied, war, dass ich nicht regelmäßig versuchte, mir solche Geschöpfe als Haustiere zuzulegen.
Ich vergaß die Zeit. Keiner von uns machte Anstalten, aufzustehen und so sahen wir uns eine knappe Stunde später einer wütenden Madam Pince gegenüber, die uns aus der Bibliothek warf, da bereits seit fünf Minuten Sperrstunde war. Also machten wir uns auf den Weg nach oben.
Ich mochte es, spät durch Hogwarts zu streifen. Wenn die Gänge des Schlosses verlassen waren und nur vereinzelt ein Schüler oder Geist zu sehen war. Dann war Hogwarts für mich keine Schule mehr. Dann war Hogwarts mein Zuhause. Ja, Hogwarts war schön. Eine Tatsache, die im Schulalltag gerne unterging. Doch nun, als wir durch die leeren Korridore liefen, die dunkler als sonst waren und nur durch Fackeln an den Wänden erhellt wurden, trat diese Tatsache umso stärker in mein Bewusstsein.
Ich wäre gerne länger geblieben. Durch das verlassene Schloss streifen, sich vielleicht in irgendeine Wandnische setzen und sich einfach unterhalten. Ich wollte nicht in den vollen Gemeinschaftsraum zurück.
Doch die Sicherheitsvorkehrungen waren verschärft worden. Lehrer patrouillierten auf den Gängen, ebenso wie Vertrauensschüler. Kein Schüler durfte sich nach Sperrstunde in den Gängen aufhalten und nie zuvor war genauer darauf geachtet worden. Selbst die Geister, die sich sonst aus dem Leben und Alltag der Schüler heraushielten, hatten begonnen, herumstromernde Schüler in ihre jeweiligen Gemeinschaftsräume zurückzuschicken und schwebten mit ernsten Mienen hin und wieder abends über den Eingängen Patrouille. Die einzige Ausnahme war Peeves. Er hüpfte gut gelaunt wie nie durch das Schloss und versuchte, die Bemühungen der Lehrer wo er konnte zu vereiteln.
Und doch konnte auch er nicht verhindern, dass sich besonders abends eine ungewöhnliche Stimmung in Hogwarts verbreitete. Wenn ich all diese Vorsichtsmaßnahmen sah, kehrte wieder dieses bedrückende Gefühl zurück und warf eine Frage in mir auf: Wussten die Lehrer mehr als sie uns mitteilen wollten? Sirius Black war näher als wir alle gedacht hatten. Doch Hogwarts war immer ein sicherer Ort gewesen. Dass sogar Dementoren die Schule bewachten, machte mir Angst. War Hogwarts wirklich noch sicher?

Flying high means falling farWo Geschichten leben. Entdecke jetzt