10. Sperrstunde

658 20 29
                                    

Wir liefen raschen Schrittes einen spärlich beleuchteten Korridor im fünften Stock entlang. Es war bereits seit zehn Minuten Sperrstunde. Noch waren wir keinem Lehrer über den Weg gelaufen und nur um Haaresbreite der im zweiten Stock herumschnüffelnden Mrs Norris entkommen.
Tara steuerte auf eine Treppe am Ende des Ganges zu, doch ich packte sie am Arm und zog sie mit mir. Zu meiner Linken schob ich einen alten, zerschlissenen Wandteppich beiseite und trat auf den dahinter befindlichen Geheimgang. Tara schlüpfte hinterher und der Teppich schwang wieder vor die Öffnung.
Im Gang war es muffig und dunkel.
Ich zückte meinen Zauberstab: »Lumos.«
Tara tat es mir gleich.
So liefen wir hintereinander den schmalen Gang entlang, der nur von dem bläulichen Licht unserer Zauberstäbe erhellt wurde. Unsere Schritte wurden von dem Teppichboden gedämpft und mit jedem Schritt wirbelten kleine Staubteilchen in das Licht der Zauberstäbe. Die Decke des Ganges war niedrig, sodass ich den Kopf leicht einziehen musste, als wir eine steile Holztreppe betraten. Die alten Stufen knarrten unter unseren Füßen, als wir sie erklommen. Wir liefen einen weiteren, langen Gang entlang und bogen um eine Ecke.
Es wurde kälter. Ich streifte mit meinem Arm die Wand zu meiner Linken und erschauderte. Die Kälte drang durch meinen Umhang und ließ mich frösteln. Wir schienen an der Außenwand des Schlosses angekommen zu sein. Ich blieb stehen und legte die Hand auf den kalten Stein. Es verwunderte mich, dass die alten, massiven Schlossmauern die Kälte nicht besser abhielten.
Auch Tara war stehengeblieben und legte ebenfalls eine Hand an die Mauer.
»Das ist keine normale Kälte«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang rau.
»Du meinst -«
»Dementoren. Ich wette mit dir, sie schweben hier vor der Schlossmauer.«
Ich nahm die Hand von der Steinmauer. Sie war eiskalt.
»Lass uns weitergehen.«
Wir liefen weiter, den Gang entlang und eine weitere Treppe empor. Der Geheimgang wurde schmäler, ehe wir einen Wandbehang erreichten und durch ihn hindurch in einen Korridor im siebten Stock und direkt in die Arme von Professor Flitwick stolperten.
»Meine Damen, Sie haben um diese Uhrzeit nichts in den Gängen zu suchen!«
»Verzeihung, Sir. Wir waren in der Bibliothek und haben die Zeit vergessen«, sagte Tara.
»Sie gehen ein unnötiges Risiko ein, wenn Sie um diese Uhrzeit noch in den Gängen umherwandern«, quiekte der kleine Professor. »Nun aber hurtig, zurück in Ihren Gemeinschaftsraum, oder ich fürchte ich muss Ihnen Punkte abziehen!«
»Gute Nacht, Sir!«
»Schleimer«, murmelte Tara, sobald wir außer Hörweite waren.
»Immerhin haben wir ihn noch zwei Jahre in Zauberkunst«, erwiderte ich grinsend, als wir in den nächsten Korridor einbogen.
Vor dem Eingang zu unserem Gemeinschaftsraum blieben wir stehen. Es war eine schlichte Holztür mit nichts weiter als einem bronzefarbenen Türklopfer in der Gestalt eines Adlers. Kein Schloss, kein Türknauf.
Tara klopfte einmal. In der Stille hallte das Geräusch unnatürlich lange nach. Der Adler öffnete den Schnabel und sagte mit seltsam melodischer Stimme:
»Wie kann man Glück sichtbar machen?«
»Ähm«, sagte Tara gedehnt und überlegte kurz. »Ich würde sagen, indem man es mit anderen teilt.«
Der Türklopfer neigte kaum merklich den Kopf und Tara ging bereits auf die Tür zu, die jeden Moment aufschwang, doch ich blieb stehen.
»Ich hätte etwas anderes gesagt«, sagte ich zu dem Türklopfer und Tara hielt inne.
»Ich hätte gesagt, ein Lächeln macht Glück sichtbar«, fuhr ich fort.
Der Adler hob den Kopf und blickte mich aus unergründlichen Augen an.
»Ein Phönix stirbt viele Tode«, sagte er mit seiner melodischen Stimme und die Tür schwang auf.
Ich blinzelte ein paar Mal und starrte verständnislos an die Stelle, an der sich zuvor der Adler befunden hatte und wo sich nun ein breiter Durchgang befand. Diesmal war ich es, die am Arm gepackt wurde, als Tara mich durch die Tür in unseren Gemeinschaftsraum zog.
In dem runden Turmzimmer war es voll und laut. Normalerweise trieben sich besonders am Wochenende immer ein paar Schüler trotz Ausgangssperre abends in den Gängen herum, doch nun war das gesamte Haus Ravenclaw hier versammelt.
Wir quetschten uns durch eine Gruppe sehr lauter Zweitklässler, um zu Sylvia und Vivien zu gelangen. Als wir bei ihnen ankamen, mussten wir feststellen, dass unsere Plätze von Roger Davies und einem seiner Freunde belegt wurden. Ich blieb einen Moment lang unschlüssig stehen, dann setzte ich mich auf den Teppichboden und lehnte mich an Viviens Sessel an, während Tara auf Sylvias Armlehne Platz nahm.
»Wo wart ihr?«, wollte Sylvia wissen.
Während Tara antwortete, hörte ich gar nicht mehr wirklich zu und richtete meine Aufmerksamkeit stattdessen auf Roger und seinen Freund, die sich gerade über Quidditch unterhielten.
Irgendwann wechselte das Gesprächsthema und ich schweifte mit meinen Gedanken ab. Meine Freundinnen waren es gewohnt, dass ich gelegentlich gedanklich abdriftete und sprachen mich nicht darauf an, bis Vivien mich anstupste.
Ich wandte mich mit fragendem Blick meinen Freundinnen zu und blickte direkt in das bis über beide Ohren grinsende Gesicht Sylvias.
»Summers oder Davies?«
Ich verstand kein Wort.
»Was?«, fragte ich verdattert.
Sylvia rutschte von ihrem Sessel auf den Boden und beugte sich immer noch grinsend zu mir herüber. Hinter ihr stürzte sich Tara auf den soeben freigewordenen Platz und beugte sich gespannt vor. Ich blickte misstrauisch zwischen meinen Freundinnen hin und her, die mich allesamt grinsend anstarrten.
»Ich versteh kein Wort«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Ach komm schon«, sagte Sylvia. »Du hast die beiden so auffällig angestarrt. Wen hast du beobachtet - Davies oder Summers?«
Ich sah von Sylvias gespanntem Gesicht zu Roger und seinem Freund, die immer noch in ihr Gespräch vertieft waren - und begriff. Ich hatte gedankenverloren meinen Blick schweifen lassen und die
beiden dabei anscheinend ziemlich auffällig angestarrt.
Ich wandte mich wieder meinen Freundinnen zu.
»Ich hab niemanden beobachtet«, erwiderte ich. »Ich war nur in Gedanken.«
»Das hat man gemerkt«, sagte Sylvia grinsend. »Es war Roger, oder?«
»Was? Nein!«
»Echt? Also doch Summers?«
»Ehrlich«, sagte ich. »Ich hab nur ins Leere gestarrt. Ich war in Gedanken, du kennst mich doch.«
Das abenteuerlustige Funkeln in Sylvias Augen erstarb. Sie stand auf und wandte sich zu ihrem Sessel um, musste jedoch feststellen, dass dieser bereits von einer breit grinsenden Tara besetzt wurde.
»Ach Mann«, murrte sie und ließ sich wieder zu Boden sinken.
Grinsend versank ich wieder in Gedanken, diesmal jedoch den Blick auf den Boden gerichtet.
Mit der Zeit leerte sich der Gemeinschaftsraum. Sylvia und ich hatten uns zwei der gemütlichen Sessel ergattert und zu den anderen ans Feuer gezerrt.
Tara saß gähnend auf ihrem Platz und kritzelte hin und wieder ein wenig an ihrem Zaubertrank-Aufsatz herum. Als mein Blick auf ihre gestreifte Feder fiel, fiel mir ein, dass ich meinen Eltern noch nicht geschrieben hatte. Also kramte ich ein Stück Pergament sowie Federkiel und Tinte aus meiner Tasche und begann, einen kurzen Brief zu verfassen.
Inzwischen war ein Großteil der jüngeren Schüler in ihren Schlafsälen verschwunden und es wurde sehr viel ruhiger im Gemeinschaftsraum. Die Feuer in den Kaminen brannten langsam herunter. Draußen war es inzwischen tiefste Nacht und es regnete nach wie vor.
Tara gähnte immer häufiger und Vivien war in ihrem Sessel eingedöst. Schließlich beschlossen wir, hoch in unseren Schlafsaal zu gehen und packten unsere Sachen zusammen. Oben angekommen verstaute ich meine Schultasche unter meinem Bett und beschloss, duschen zu gehen, ehe irgendjemand sonst das Bad belagern konnte.
Als ich schließlich in Pyjama und mit nassen Haaren den Schlafsaal betrat, schlief Tara bereits tief und fest.
Ich nahm das Handtuch, das ich mir um die Schultern gehängt hatte und breitete es auf dem Kopfkissen aus, ehe ich die Vorhänge meines Bettes mit einem »Gute Nacht« zuzog und mich in die Kissen sinken ließ. Es folgte ein »Gute Nacht« von Sylvia und unverständliches Gemurmel von der offensichtlich bereits im Halbschlaf verweilenden Vivien.
Ich drehte mich auf die Seite und zog die Bettdecke höher. Die nassen Haare waren unangenehm, aber es dauerte mir zu lange, sie mit Magie zu trocknen.
Nach einigen Minuten verstummte auch das Geraschel meiner Zimmergenossinnen und es herrschte Ruhe im Schlafsaal. Nur noch das Prasseln der Regentropfen gegen die Fenster war zu hören, als ich langsam in den Schlaf sank.


Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 14, 2016 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Flying high means falling farWo Geschichten leben. Entdecke jetzt