5. Erster Schultag

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Als ich am nächsten Morgen zusammen mit Tara in den Gemeinschaftsraum hinabstieg, war Sylvia noch damit beschäftigt, Vivien aufzuwecken. Gemeinsam gingen wir zum Frühstück in die Große Halle. Dort setzten wir uns an den noch recht leeren Haustisch und machten uns über gebratenen Speck und Eier her. Nach dem Essen blieben wir sitzen und warteten auf Professor Flitwick, der unsere diesjährigen Stundenpläne an uns verteilen würde.
»Miss Bolt«, quiekte der kleine Professor, als er zu unserem Tisch herübergekommen war und wandte sich mir zu. »Sie möchten gerne die Fächer Zauberkunst, Verteidigung gegen die dunklen Künste, Kräuterkunde, Verwandlung, Pflege magischer Geschöpfe und Alte Runen weiter belegen, ist das richtig?«, fragte er.
Ich nickte.
»Nun, Zauberkunst ... sehr schön ... ich freue mich, sie mit einem Ohnegleichen in meinem UTZ-Kurs wiederempfangen zu dürfen. Verteidigung gegen die dunklen Künste ... schön ... wenn Sie sich etwas mehr anstrengen, können sie noch ein Ohnegleichen erreichen, Miss Bolt, hier ist Ehrgeiz gefragt!«
Tara warf mir einen grinsenden Blick zu, während Professor Flitwick wieder seine Aufzeichnungen zu Rate zog:
»Kräuterkunde, Verwandlung, Alte Runen ... alles in Ordnung. Pflege magischer Geschöpfe ... sehr schön, Professor Kesselbrand war über ihre Note sehr erfreut. Nun, ich bin sicher, Sie werden Professor Hagrids Unterricht mit Bravour meistern!«
»Danke, Sir.«
Er tippte mit seinem Zauberstab auf die Fächer meines leeren Stundenplans und überreichte ihn mir, nun ausgefüllt mit meinen neuen Unterrichtsstunden.
»Danke, Professor.«
»Miss Fawcett.« Er wandte sich weiter an Sylvia, während ich meinen Stundenplan studierte.
Erfreut stellte ich fest, dass ich heute direkt in der zweiten Stunde eine Freistunde hatte.
Als schließlich auch Tara ihren Stundenplan ausgehändigt bekommen hatte, verließen wir die Halle und machten uns auf den Weg zu unserem Zauberkunst-Klassenzimmer.
Fast alle Schüler meiner Jahrgangsstufe waren vor dem Klassenzimmer versammelt. Die Sechstklässler aus Ravenclaw hatten alle Zauberkunst weiter belegt, und von den Schülern der anderen Häuser schien kaum jemand das Fach abgewählt zu haben.
Als schließlich Professor Flitwick uns in das Zimmer einließ, setzten Tara und ich uns in die vorletzte Reihe. Die letzten Reihen waren bereits von einigen Gryffindor-Jungen besetzt. Zu meiner Rechten nahmen zwei Hufflepuffs Platz und Vivien und Sylvia, die nach uns hereingekommen waren, setzten sich in die Reihe vor uns.
Der erste Unterricht des Jahres begann mit einer todlangweiligen Rede. Es gehe nun mit großen Schritten auf die UTZs zu. Der Stoff werde anspruchsvoller. In uns würden große Erwartungen gesetzt. Im Grunde wirklich beruhigende und aufbauende Worte. Doch da wir nun bereits unsere UTZ-Kurse belegt hatten, sah es unser Hauslehrer wohl als seine Pflicht, uns mitzuteilen, auf was wir in den kommenden zwei Schuljahren hinarbeiten würden; was die Lehrer immer häufiger ansprachen und was die Schüler nach wie vor mehr oder weniger erfolgreich zu verdrängen versuchten: unsere Abschlussprüfungen.
Ich fand es noch ein wenig voreilig, mich mit dem Thema mit dieser Ernsthaftigkeit, die unsere Lehrer an den Tag legten, auseinanderzusetzen. Und doch musste ich feststellen, dass die letzten Jahre beunruhigend schnell an mir vorbeigezogen waren. Im Nachhinein gesehen verging die Zeit doch verdammt schnell, auch wenn sich in gewissen Unterrichtsstunden freitagnachmittags die Minuten in die schiere Unendlichkeit zu ziehen schienen.
Fünf magische Jahre auf Hogwarts hatte ich hinter mir. Und auch die kommenden würden sicherlich aufregend werden. Ich würde trotz der Prüfungen eine Menge Spaß haben, da war ich mir sicher. Wie konnte man auch nicht, auf dieser wunderbaren Schule? Zwei weitere Jahre auf Schloss Hogwarts standen uns bevor. Zwei weitere Jahre voller Magie, mit unzähligen Hogsmeade-Wochenenden, Feiern und Festessen, und, wer weiß, vielleicht würde es uns in den kommenden Jahren doch noch gelingen, endlich den Quidditch-Pokal zu gewinnen.
Quidditch. Wie sehr hatte ich es vermisst. Zwar konnte ich zu Hause auch fliegen, doch es war einfach nicht dasselbe. Zu Hause musste ich ständig auf der Hut sein; kein Muggel durfte mich sehen und höher als ein paar wenige Meter zu fliegen, war daher nicht möglich. Ich überlegte, nach dem Abendessen ein paar Runden auf dem Quidditch-Feld zu drehen und hoffte inständig, mein Besen würde bis dahin ankommen. Meine Eltern schickten mir, wie die Jahre zuvor auch, den Besen per Eule nach, da es mir zu umständlich war, das sperrige Ding die ganze Fahrt über mit mir herumtragen zu müssen. Ich hatte sie gebeten, ihn nicht mit der Morgenpost zu schicken, das würde nur unnötig Aufmerksamkeit erregen.
In Gedanken war ich auf dem Quidditch-Feld, weswegen es mir nur sehr schwer fiel, dem Kapitel über Elementarzauber, das wir für den Rest der Stunde lesen sollten, irgendeinen Sinn zu entnehmen.
Als wir zum Stundenwechsel das Klassenzimmer verließen, verabschiedete ich mich feixend von Tara, ehe ich mich nach links wandte und eine Treppe hinaufstieg, während Tara murrend in Richtung Kerker verschwand. Sie musste nun zu Zaubertränke, während ich eine Freistunde hatte.
Im Gemeinschaftsraum angekommen ließ ich meine Schultasche neben mir zu Boden fallen, ehe ich mich auf einen der Sessel am Fenster sinken ließ. Bis auf einige Siebtklässler und zwei Jungen aus meiner Jahrgangsstufe war der Raum leer. Widerstrebend öffnete ich die Tasche und kramte zwischen den anderen Büchern mein Zauberkunst-Buch und eine neue Rolle Pergament sowie eine Schreibfeder heraus. Als ich meine Runen-Bücher wieder in die Tasche stopfte, hielt ich inne. Weshalb hatte ich diese Bücher die ganze Zeit mit mir herumgeschleppt? Mir war klar gewesen, dass ich nach Zauberkunst in den Ravenclaw-Turm zurückkehren würde. Wieso also hatte ich die Bücher nicht hiergelassen und erst nach der Freistunde mitgenommen? Mich überkam das Bedürfnis, den Kopf auf die Tischplatte vor mir zu schlagen, doch stattdessen rollte ich nur das Pergament auf und strich es glatt, ehe ich mir meine Feder nahm und das Zauberkunst-Buch auf Kapitel eins aufschlug. In nächsten Moment musste ich meine Tasche erneut öffnen, da ich das Tintenfass vergessen hatte. Mit dem Gedanken, dass ich wohl zu lange nicht mehr auf dieser Schule gewesen war, schraubte ich das Tintenfass auf und begann, meine Zusammenfassung zu schreiben.
Nach etwa einer halben Stunde schneite Vivien herein, die in der Eulerei gewesen war. Ich wechselte einige wenige Worte mit ihr, ehe sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte und die Augen schloss, während ich mich wieder meinem Schlusssatz widmete. Auf der Suche nach den richtigen Worten starrte ich gedankenverloren aus dem Fenster. Mein Blick schweifte hinüber zum Quidditchfeld. Eine kleine, rote Gestalt umkreiste in der Ferne die Torringe. Ich folgte ihr mit meinen Augen, während ich sehnsüchtig an meinen eigenen Besen dachte. Daran, endlich wieder zu fliegen.
Resigniert schlug ich das Buch zu und legte die Feder beiseite. Gerade als ich beschlossen hatte, der Eulerei einen kurzen Besuch abzustatten, klingelte es zur nächsten Stunde und Vivien schreckte neben mir aus ihrem Sessel hoch. Ich rollte das Pergament zusammen und steckte es zusammen mit der Feder und dem Tintenfass zurück in meine Tasche. Das Lehrbuch der Zaubersprüche Band 6 packte ich nicht wieder ein.
»Ich bring nur schnell das Buch hoch«, meinte ich zu Vivien, ehe ich auf der Wendeltreppe zu unserem Schlafsaal verschwand. Als ich wieder zurückkehrte, stand Vivien bereits neben dem Eingang und wartete auf mich.
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu unserer nächsten Unterrichtsstunde.
»Was haben wir jetzt eigentlich?«, fragte Vivien plötzlich unerwartet, während wir auf eine Treppe warteten, die sich langsam zu uns herüberdrehte.
»Bist du jetzt ernsthaft die ganze Zeit mit mir mitgelaufen, obwohl du nicht einmal wusstest, ob wir überhaupt das gleiche Fach haben?«
Vivien zuckte lediglich mit den Schultern. »Du hättest schon was gesagt.«
»Sicher?«
»Ich vertrau dir. Du kennst den Stundenplan besser als ich.«
»Aber wag es ja nicht zu behaupten, ich wäre schuld, wenn du einmal im falschen Unterricht landest«, sagte ich grinsend. »Zu deiner Info: wir haben Alte Runen.«
Alte Runen war schlichtweg langweilig. Der üblichen Rede zu Beginn des Schuljahres folgte ein Überblick über unsere diesjährigen Themen. In der zweiten Stunde erläuterte uns Professor Babbling zunächst die Herkunft und Bedeutung der neuen Schriftzeichen, ehe wir zu übersetzen begannen. Das Übersetzen an sich fiel mir nicht schwer, nur war es nicht leicht, die Botschaft hinter den Texten zu verstehen und richtig zu deuten. Verbunden mit den einzelnen Runen, die oftmals sehr unterschiedliche Bedeutungen haben konnten, machte das das Ganze für uns nicht unbedingt einfacher.
Ich war froh, als es endlich zur Mittagspause läutete und gemeinsam machten Vivien und ich uns auf den Weg in die Große Halle zum Mittagessen.


Flying high means falling farWo Geschichten leben. Entdecke jetzt