8. Schlaflos

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Als ich am Abend in meinem Himmelbett lag, sah ich immer noch sein Gesicht vor mir. Dunkle Augen. Die Miene wie versteinert. Der kalte, ausdruckslose Blick, mit dem er mich ansah.
Ich konnte nicht schlafen.
Langsam schälte ich mich aus meiner dünnen Decke und stieg aus dem Bett. Ich lief hinüber zu Sylvias Bett und nahm die Treiberfibel von ihrem Nachttisch. Dann tapste ich zur Tür des Schlafsaals und öffnete sie leise.
»Steph?«
Tara hatte sich herumgedreht und schob nun die Vorhänge ihres Bettes zur Seite. Sie sah mich mit großen Augen an.
»Was machst du?«
»Ich kann nicht schlafen«, flüsterte ich. »Ich setz mich runter in den Gemeinschaftsraum.«
»Aber nicht einschlafen«, nuschelte Tara, ehe sie sich in ihre Kissen zurücksinken ließ.
»Keine Sorge.«
Ich trat durch die Tür des Schlafsaals und erschauderte unwillkürlich, als meine nackten Füße die kalten steinernen Stufen der Treppe berührten.
Kurz überlegte ich, meine Kuschelsocken aus der Kommode zu holen, entschied mich dann jedoch dagegen und lief barfuß über die Wendeltreppe in den Gemeinschaftsraum hinab.
Die herunterbrennenden Feuer in den Kaminen tauchten den Raum in bläuliches Licht. Die Sessel warfen flackernde Schatten und der sonst so helle Gemeinschaftsraum wirkte ungewöhnlich düster. Trotz allem war es behaglich warm.
Ich steuerte einen der Kamine an und setzte mich im Schneidersitz in einen Sessel nahe am Feuer. Dann begann ich zu lesen.
Die Flammen knisterten angenehm und warfen ihr flackerndes Licht auf die Zeilen. Ich verlor mich zwischen den Wörtern. Zwischen Quidditch-Taktiken und Namen berühmter Treiber und Taktiken berühmter Treiber. Ich war vollkommen versunken.
Der schwächer werdende Schein der Flammen machte es mir mit der Zeit schwieriger, die Buchstaben zu erkennen. Ich verrutschte immer wieder in den Zeilen, meine Sicht verschwamm. Die Worte verloren langsam ihren Sinn.

Ich blinzelte.
Das Feuer war heruntergebrannt. Eine leicht bläuliche Glut erhellte den Kamin vor mir.
Mein Arm hing seitlich vom Sessel. Das Buch war mir aus der Hand gefallen.
Ich setzte mich schlaftrunken auf und rieb mir den verspannten Nacken. Wie lange hatte ich geschlafen?
Ich stand langsam auf und streckte meine kribbelnden Füße.
Das war mir wirklich noch nie passiert. Ich war im Gemeinschaftsraum eingeschlafen. Müde gähnend machte ich mich auf den Weg zu der Wendeltreppe, die in die Schlafsäle führte. Oben angekommen ließ ich mich mit dem Gesicht voraus in die Kissen fallen. Eigentlich wollte ich mich zudecken, aber die Decke lag am äußersten Fußende des Bettes und ich war zu faul, mich so weit zu bewegen. Noch während ich versuchte, mich aufzuraffen, sank ich in den Schlaf.

Die Woche verging schnell. Die ersten Schulstunden waren ohne nennenswerte psychische Schäden überstanden und in Hogwarts hatte sich der gewohnte Alltag eingependelt.
Ich befand mich gerade in einem etwas stickigen Klassenzimmer im vierten Stock und fragte mich, wie ich diese Stunde nur lebend überstehen konnte. Es war Freitag Nachmittag und ich kämpfte mich, Minute um Minute totschlagend, durch die letzte Stunde Alte Runen, die mich von dem ersehnten Wochenende trennte.
Ich gähnte hinter vorgehaltener Hand und schrieb gelangweilt die Übersetzung mit, die gerade von einer Schülerin noch einmal vorgelesen wurde. Gerade verhaspelte sie sich in einem langen Satz voller unaussprechlicher Namen, als sie von Professor Babbling unterbrochen wurde, die auf einen Fehler im vorherigen Satz hinwies. Ein Murren ging durch die Klasse, gefolgt von einstimmigem Federkratzen, als die Schüler besagte Stelle ausbesserten. Ich verfluchte gedanklich Vicky Frobisher und strich resigniert den Fehler durch. Die nächste halbe Minute verbrachte ich damit, unmotiviert mein Pergament anzustarren und zu überlegen, wie ich die Verbesserung am besten zwischen die Zeilen quetschen konnte, was dazu führte, dass ich die restliche Stunde damit verbringen durfte, Viviens Sauklaue zu entziffern, da ich mit dem Mitschreiben nicht mehr hinterherkam.
Endlich, es fühlte sich eher an, als wäre statt einer einfachen eine Doppelstunde vergangen, klingelte die erlösende Schulglocke und ich schlurfte, geschlaucht und mit Vivien im Schlepptau, aus dem Zimmer in den Korridor. Dort blieb ich erst einmal ratlos stehen und sah mich unschlüssig um. Ich überlegte, wo Tara war. Ich hatte sie nicht gesehen, seit sie sich nach der Mittagspause auf den Weg in die Kerker zu Zaubertränke gemacht hatte. Sie hatte bereits seit einer Stunde frei, sie konnte also überall sein.
»Kommst du?«, fragte Vivien neben mir.
»Wo sind denn die anderen?«
»Sylvia hat gesagt, dass sie am See auf uns warten.«
»Okay.«
Also machten wir uns auf den Weg nach unten. Als wir durch die Eingangshalle liefen, wanderte mein Blick fast schon automatisch zu den großen Stundengläsern. Obwohl sich erst wenige Steine in den unteren Kolben befanden, stellte ich erfreut fest, dass Ravenclaw bereits ein paar Punkte vorne lag.
Die Sonne schien von einem leicht bewölkten Himmel, als wir durch das schwere Eichenportal traten und zum schwarzen See hinabliefen. Tara und Sylvia waren nirgends zu sehen. Unter einer kleinen Baumgruppe breiteten wir unsere Schulumhänge aus und ließen uns darauf nieder. Wenige Meter von uns entfernt saßen einige kleine Slytherins im Gras und spielten Zauberschnippschnapp.
»Hast du nicht gesagt, sie wollten hier auf uns warten?«, fragte ich.
»Ach, du kennst die beiden doch«, sagte Vivien, während sie ein Buch aus ihrer Schultasche kramte.
»Ist ja nicht so, dass ich etwas anderes erwartet hätte«, murmelte ich und öffnete ebenfalls meine Tasche. »Wann war Tara zuletzt pünktlich?«
Vivien murmelte etwas von wegen »Kommen schon noch.« Sie war bereits in ihr Buch vertieft.
Seufzend kramte ich in meiner Tasche nach Pergament und Feder, sowie Tinte. Behutsam schraubte ich das Tintenfass auf, tauchte die Feder ein und strich das Pergament mit dem begonnenen Verwandlungs-Aufsatz vor mir glatt. Gerade als ich die Spitze der Feder auf das Pergament setzte, tauchten Tara und Sylvia auf. Beide trugen Bücher in den Armen und kamen raschen Schrittes über das Gras vom Schlossportal zu uns herüber. Sylvia rauchte vor Zorn.
»Ich glaub's nicht!«, rief sie aus, pfefferte ihre Tasche auf den Boden und ließ die Bücher gefährlich nah neben meinen Aufsatz fallen. »Ich glaub's nicht!«, wiederholte sie und ließ sich neben mir auf meinen Umhang fallen.
»Was ist denn los?«, fragte ich und schraubte sicherheitshalber mein Tintenfass zu.
»Pince hat mir gerade zehn Punkte abgezogen, weil ich in der Bibliothek Bertie Botts Bohnen gegessen habe«, erklärte Sylvia. »Bertie Botts Bohnen! Wie soll man denn damit Bücher verschmutzen? Die bröseln doch nicht mal!«
»Naja, es könnte theoretisch sein, dass du über eines ihrer Bücher drüberkotzt«, erwiderte ich sachlich. Sylvia warf mir einen tödlichen Blick zu.
»Als ob ich jemals wegen einer dieser Bohnen gekotzt hätte!«
Tara ließ ein Husten vernehmen, das sich verdächtig nach »dritte Klasse« anhörte.
»Sie hat es einfach auf mich abgesehen«, fuhr Sylvia fort und starrte mit bösem Blick zum Schloss.
»Wenn du mich fragst, hat sie dir die Sache letztes Jahr nie ganz verziehen«, meinte ich.
»Ach, das weiß die doch längst nicht mehr«, sagte Tara.
»Doch«, erwiderten Sylvia und ich gleichzeitig.
»Wisst ihr, wie viele Schüler die täglich aus der Bibliothek wirft, weil sie Schokolade oder Kesselkuchen oder sonst was essen?«, sagte Tara. »Sie kann sich unmöglich alle Namen merken.«
»Trotzdem«, beharrte Sylvia stur.
Ich stimmte ihr im Stillen zu. Madam Pince würde niemals vergessen, dass eine damals vierzehnjährige, naive Schülerin aus Ravenclaw in ihrer Naivität einst eines ihrer geliebten Bücher samt Schokolade in der Sonne liegen hatte lassen. Eben jene inzwischen fünfzehnjährige, aber immer noch genauso naive Ravenclaw-Schülerin, die soeben mit dem Versuch, in der Bibliothek in Gegenwart von Madam Pince Süßigkeiten zu essen, ihre gleichgebliebene Naivität bewiesen hatte, saß nun mit trotzig verschränkten Armen neben mir.
»Es ist einfach unfair«, beklagte sie sich.
»Du darfst sie eben nicht provozieren«, sagte Tara.
»Ich hab sie nicht provoziert!«, rief Sylvia entrüstet.
»Jetzt lass doch mal gut sein«, warf Vivien ein.
Ich dankte ihr im Stillen und wandte meine Aufmerksamkeit wieder meinem Aufsatz zu.
Auch Tara und Sylvia holten ihre Arbeitsutensilien heraus und begannen mit ihren Hausaufgaben. Niemand sprach. Einzig das leichte Rauschen des Windes im verbotenen Wald und das gelegentliche Explodieren einer Spielkarte der Slytherins nebenan war zu hören.
Mit der Zeit zogen Wolken auf und der Wind wurde kühler. Ich schlang die Arme um den Körper, während mir Haarsträhnen ins Gesicht geweht wurden. Leichte Wellen bewegten den schwarzen See, der sonst still und glatt wie ein dunkler Spiegel vor uns lag. Normalerweise mochte ich diese Stimmung. Doch nun fühlte ich mich seltsam leer.
Die Slytherins neben uns packten ihre Spielkarten zusammen und liefen hoch zum Schloss. Sie hinterließen nichts als einige Flecke verbrannter Erde.
Der Himmel verdunkelte sich. Tara blickte besorgt nach oben.
»Wir sollten gehen«, sagte sie.
Ich stimmte zu und wir packten unsere Sachen zusammen. Noch während wir unsere Umhänge anzogen, begann es zu regnen. Immer mehr Tropfen prasselten auf den See, dessen Oberfläche nun aufgewühlt war und dunkler denn je wirkte. Die Taschen über den Köpfen rannten wir hoch zum Schloss.
Zu diesem Zeitpunkt nahm ich zum ersten Mal die Dementoren wirklich wahr, die unheilvoll und regungslos über dem Schlossportal im Regen schwebten.


Flying high means falling farWo Geschichten leben. Entdecke jetzt