Kapitel 10

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Ro war die ganze Kunststunde so mit Malen und Zeichnen beschäftigt, dass Sie erst beim Gong aufschreckte, und bemerkte, dass der Platz neben ihr leer und das Papier noch weiß waren.
Sue.
Ro packte hastig ihre Sachen und rannte aus dem Zimmer.
Scheiße.
Sie hatte es nicht bemerkt.
Nicht bemerkt, dass es ihrer Freundin schlecht ging.
Nicht bemerkt, dass Sue aufgestanden war.
Nicht bemerkt das Sue ihre Hilfe brauchte.
Tränen wollten ihr in die Augen schießen.
Tränen weil Sie versagt hatte.
Doch Tränen bestanden aus Selbstmitleid.
Nein. Sue dürfe weinen. Nicht Ro.
Nicht weinen.
Ro überlegte fieberhaft, wo Sue sein könnte, während sie sich durch die Schülermassen drängte.
Hier ein Bein gestellt, dort geschubst.
Alltag für jemanden wie Ro. 
Sie ignorierte alles um sich herum gekonnt und lief weiter.
Der Kirschbaum.
Ganz hinten im Pausenhof war ein alter Kirschbaum, den Sue liebte.
Sie hatte sich schon oft dort versteckt. 
Ro rannte über den Hartplatz.
Gelächter und Gespotte hinter ihr.
Der Baum.
Er hing weit über den Zaun des Schulgeländes und über einem Fluss, der durch den Ort floss und bei Starkregen manchmal überlief.
Der Fluss der... Nein. Nicht daran denken. Nicht jetzt.
Da. Weit oben im Baum, beinahe über dem Fluss, sah sie Sue zusammengekrümmt auf einem Ast sitzen, die Augen weit aufgerissen und tränenverschleiert.
"Sue!", rief Ro erschrocken aus, doch sie schien sie nicht zu bemerken. Schien in einer anderen Welt.
Ro spürte Angst in sich  hochkriechen. Was war passiert?
War es ihre Schuld?
Plötzlich spürte Ro wie jemand hinter sie trat, ihr die Hand auf die Schulter legte und sagte "Es ist nicht deine Schuld. Ich war es."

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