Weg gedrückt!
Er hat mich einfach weg gedrückt! Ich fasse es nicht. Das kann doch wohl nicht wahr sein.
Aber wenn er denkt, dass ich ihm jetzt noch, nach all dem ignorieren nachtrauere, dann hat er sich gewaltig geschnitten.
Er ist ab sofort für mich gestorben. Genauso mache ich es.
Ich lasse mir doch nicht Weihnachten nur wegen so einem Blödmann versauen. Ja wer bin ich denn?
*drei Tage später*
Ich bin mit meiner Familie auf einem kleinen Boot mitten auf dem Meer. Es ist alles wunderbar ruhig und die Sonne scheint. Ich breite mein Handtuch in der Sonne aus und lege mich auf den Bauch. Ich höre das sanfte Rauschen von den Wellen die gegen das Boot schlagen und werde automatisch müde. Eine angenehme Wärme umgibt mich. Meine Augenlider werden immer schwerer und ich höre jemanden leise nach mir rufen. Moment mal, da ruft jemand nach mir. Ich öffne langsam meine Augen und richte mich mühsam auf. Das Rufen ist immer noch da, aber es klingt, wie wenn es weit, weit weg ist. Plötzlich schaukelt das Boot ein bisschen und ruckartig wird mir kalt. Ich drehe meinen Kopf nach links und sehe meinen Bruder, wie er anfängt zu hüpfen und Hin und Her zu rennen. Ich versuche ihm klar zu machen, dass er doch bitte aufhören soll weil ich mich ausruhen möchte aber er hüpft einfach weiter. Im Gegenteil, er hüpft sogar noch höher und noch stärker wie davor. Das Boot wackelt immer stärker und der Ruf wird immer lauter. Er ist jetzt direkt neben meinem Ohr und ich habe da Gefühl, dass mein Trommelfell gleich platzt.
Aber mein Trommelfell ist gerade einer meiner kleinsten Sorgen. Das Boot schwankt immer mehr und ich werde ziemlich durchgeschüttelt. Langsam rutsche ich richtig hin und her und versuche meinen Bruder zu zubrüllen, dass er sofort aufhören soll aber ich bekomme keinen Ton heraus und kann mich nirgends festhalten. Plötzlich läuft ein Ruck durch das Boot und es steht ganz still. Ich habe zu viel Schwung und rase ungebremst auf die Reling zu. Ich versuche mich irgendwo festzuhalten und abzufangen aber ich stolpere und falle über die Reling. Ich stoße noch kurz einen spitzen Schrei aus, dann habe ich Wasser in Mund und Gesicht.
Na klasse. Mein kleiner, nerviger, fünfjähriger Bruder, hat es mal wieder geschafft mich zu wecken! Und das auch noch an Heiligabend, wo ich ausschlafen kann. Grunzend drehe ich mich um und ziehe meine Beine an den Körper damit ich die wenige Restwärme, die noch in mir ist, behalte. Langsam wische ich mir das Wasser aus dem Gesicht und schlage in die Richtung, aus der das Schreien kommt. Heute hat er echt alle Tricks verwendet, um mich aufzuwecken. Und er wird keine Ruhe geben, bis er weiß das ich wach bin. Danach aber höchstwahrscheinlich auch nicht.
"Cleo! Aufstehen! Der Weihnachtsmann kommt heute. Snell!"
"Jaja. Gib mir meine Decke wieder."
"Nur wenn ich auch drunter darf:"
"Jaja."
"Versprochen?" Das Hüpfen hat zum Glück aufgehört.
"Ja!"
Die Decke ist inzwischen kalt und ich zitter ein bisschen, als ich Luci's kalte Füße an meinen Beinen Spüre. Sein Körper ist dafür wunderbar warm und ich drücke ihn ganz fest an mich. Er ist so niedlich mit seinen dauerroten Pausbacken, dunkelblauen Augen und hellblonden, lockigen Haaren. Ich liebe ihn echt über alles, auch wenn er manchmal tierisch aufregen kann. In letzter Zeit, habe ich immer wieder Angst ihn irgendwann zu verlieren und nie mehr knuddeln zu können.
Ich bin gerade dabei, wieder wegzudösen als er anfängt zu zappeln. Er versucht wegzurutschen und aufzustehen aber ich ziehe ihn mit aller Kraft wieder zu mir. Als ich wieder locker lasse, entwischt er mir sofort und ist schon aus dem Zimmer. Theoretisch könnte und würde ich jetzt weiter schlafen aber Luci hat mich mit seinem Tatendrang angesteckt. Seufzend schäle ich mich aus meinem Bett und ziehe mir meinen dicken Sportpullover über. Im ganzen Haus riecht es nach frisch gebackenen Plätzchen und Tannenbaum. Kurz: nach Weihnachten!
Als ich in die Küche komme, stehen auf der Herdplatte zwei dampfende Bleche mit Vanillekipferln und Zimtsternen und meine Mutter deckt pfeifend den Tisch, während aus dem Radio laut 'Last Christmas' kommt.
"Morgen Schätzchen, Luci schmückt schon den Weihnachtsbaum. Kannst du bitte aufpassen, dass nichts passiert?"
Ich stecke mir hinter dem Rücken von meiner Mutter ein Vanillekipferl und einen Zimtstern in den Mund und nuschele:
"Bin schon unterwegs."
Himmlisch! Sie sind noch lauwarm und ich kaue genüsslich als ich mich mit zwei Weiteren in der Hand aus der Küche schiebe.
"Guten Appetit! Sag dann, wie sie geworden sind."
Ok! Die Heimlichtuerei hätte ich mir eindeutig sparen können.
Ich höre ein lautes Klirren und beschließe, einen Umweg über die Besenkammer zu machen. Mit Kehrwisch und Schaufel und guten Nerven bewaffnet, betrete ich das Wohnzimmer aber als ich sehe was los ist, lasse ich augenblicklich das Zeug fallen und sprinte los. Im aller letzen Moment erwische ich den Baum, bevor er vollends genau auf meinen Bruder kippt.
Erst als ich den Baum wieder aufgerichtet habe und mir sicher bin, dass es Luci glänzend geht, spüre ich den stechenden Schmerz an meinem Fuß. Ich hüpfe auf einem Bein zum Sofa und versuche mit schmerzverzerrtem Gesicht die Scherbe aus meinem Fuß zu ziehen.
Mein Bruder hat es irgendwie geschafft, von alledem nichts mitzubekommen, denn er sitzt seelenruhig auf dem Boden und versucht, eine rote Kugel an einen Hänger zu bekommen. Als ich mich verartztet, die Scherben aufgewischt, den Baum wieder aufgestellt und Luci bei dem Hänger geholfen habe, fange ich auch an, den Baum zu schmücken.
Langsam stellt sich auch bei mir das gemütliche Gefühl von Weihnachten ein und ich übe mit Luci noch das kleine Gedicht, das er heute Abend aufsagen wird.
Es ist jetzt schon 15:30 Uhr und ich schnappe mir Luci, um mit ihm und Aiko einen langen Spaziergang zu machen. Wir holen Aiko ab und es gibt ein ziemlich stürmisches Wiedersehen bei den Beiden. Für Luci ist Aiko wie so ein großer Bruder mit dem man alles machen kann und Aiko lässt echt alles mit sich machen wenn Luci dabei ist.
Ich genieße die kühle Luft und schaue Aiko und Luci beim Verrückt sein zu. Obwohl es echt kalt is, hat es diesen Winter noch kein einziges Mal geschneit. Dann hald keine weiße Weihnacht dieses Jahr.
Irgendwie schweifen meine Gedanken ab. In welche Richtung wohl?
Natürlich Lucas. Es gibt so viele unbeantwortete Fragen die ich habe.
Ich glaube, die wichtigste ist: kann ich ihm irgendwann wieder vertrauen?
Ich weiß nicht wie lange ich jetzt eigentlich schon laufe. Ich weiß nicht, wie lange ich jetzt schon in Gedanken versunken bin. Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich jetzt schon auf den grauen Feldweg starre. Ich weiß auch nicht, wie lange ich die Füße neben meinen gesehen habe, ohne sie wahr zu nehmen. Ich weiß gerade gar nichts mehr.
"Ist das dein Bruder?"
![](https://img.wattpad.com/cover/8116046-288-k356541.jpg)