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Ich hatte niemals gedacht, das ich in der Lage wäre, einen Menschen so sehr zu verletzen, dass er es für nötig hielt, mir zu drohen. Deswegen war ich zufiest entsetzt, als ich diesen abscheulichen Brief von Newton Teach in meiner Hand hielt.
Ich hatte ihn immer für einen treudoofen Nerd gehalten. Tja, ich hatte mich geirrt. Aber das war ich schließlich bereits gewohnt.
Ich steckte den Brief in meinen Hosenbund und joggte so schnell ich konnte nach Hause. Dort erwarteten mich bereits meine Eltern. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihnen davon zu erzählen. Aber sie waren nicht die richtigen Personen. Und sie hätten mir eh nicht mehr geholfen. Meine Mutter musterte mich und sah enttäuscht aus. Mein Vater kam die Treppe herunter, einen Koffer in jeder Hand und einen Rucksack auf dem Rücken. ,,Hallo", begrüßte er mich mit einer monotonen Stimme. So hatte er auch schon, als ich noch ein Kind war, immer mit mir gesprochen, wenn er sauer oder enttäuscht von mir war. ,,Hi", gab ich zurück und löste die Knoten aus meinen Schnürsenkeln. ,,Wir verreisen über's Wochenende. Am Dienstag sind wir wieder da. Es gibt keine Partys, verstanden? Falls doch kannst du deine Sachen kappen" Damit ging er an mir vorbei, zur Haustür hinaus. Meine Mutter kam mit zwei Brotboxen aus ihrem Lieblingsraum im Haus. ,,Tschüss", sagte sie und verließ ebenfalls das Haus. Ich kickte meine Schuhe von meinen Füßen. Dad kam noch einmal. ,,Ich hab dich lieb" Er erwartete keine Antwort und schloss die Tür hinter sich. Ich stand planlos im Flur. Da fiel mir der Brief wieder ein. Ich rannte in mein Zimmer und holte mein Handy hervor. Einige Leute hatten mich zu einer Poolparty eingeladen, an der ich natürlich nicht teilnahm. Ich war nicht in der Stimmung zu Feiern, was mich wütend machte. Sam war nicht mehr da und trotzdem schaffte sie es, sich in mein Leben einzumischen.
Die Drohung machte mir Angst. Denn sie erschien mir ernst gemeint. Also wand ich mich an die Person, die mir zuerst einfiel. Mit zitternden Fingern tippte ich Ethan eine Nachricht, in der ich ihm um ein Gespräch bat, da ich sein Hilfe dringend brauchte. Keine zwei Minuten später, kam seine Antwort. Nicht positiv. Er schrieb einfach nur: "nein". Das hatte ich wohl verdient. Und ich hätte darauf vorbereitet sein müssen. Mein Leben lief einfach zu gut. Es musste passieren und nun war es soweit. Es ging wieder bergab mit mir. Da ich zu verzweifeln drohte, beschloss ich mich erst einmal zu duschen. Vom Joggen fühlte ich mich dreckig und ich hoffte, dass auch meine Sorgen im Abfluss verschwinden würden. Nur mit einem Handtuch bekleidet stellte ich mich vor den Spiegel und kämmte meine Haare. Ein kalter Windstoß bereitete mir eine Gänsehaut. Ich tapste zitternd zurück in mein Zimmer und bemerkte mein offenes Fenster. Und eine Gestalt auf dem Ast. Ich schrie bis die Person sich in meinem Zimmer befand. ,,Halt die Klappe, Ava", ertönte Ethans Stimme und ich verstummte erleichtert. Nie wieder würde ich das Fenster offen stehen lassen, wenn es bereits dämmerte. Ich hatte mir anscheinend ziemlich viel Zeit mit dem Duschen gelassen, denn es war bereits fast vollständig dunkel. ,,So, du hörst mir jetzt mal zu!", begann er mit wütender Stimme und stupste mir gegen die Brust, sodass ich mich auf meinem Bett niederließ. ,,Wer denkst du eigentlich, wer du bist, mhm? Ich bitte dich mir dabei zu helfen meine, seit vier Monaten verschwundene, Schwester zu finden und du lehnst eiskalt ab. Sie war... nein ist deine beste Freundin. Ihr habt all diesen Mädchenscheiß zusammen durchgestanden und was sonst noch so in Sams Kopf abging. Du warst ihr Ein und Alles, aber dir ist es scheiß egal was jetzt mit ihr ist und jetzt? Jetzt erwartest du von mir, dass ich dir helfe! Spinnst du eigentlich? Was für ein arrogantes..." Da unterbrach ich ihn. ,,Hör auf", sagte ich mit fester Stimme, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Das hatte ich nicht verdient, aber ich wusste auch, dass er recht hatte. Ich fühlte mich schuldig, weil ich das Gefühl hatte, ich hätte sie sofort am Anfang suchen sollen. Außerdem fehlte sie mir. America konnte ihre Lücke nicht füllen. Sie war eben America und nicht Sam. Doch ich wollte es mir die vergangene Zeit über nicht eingestehen. Weil ich dachte, dass es das war was ich wollte. Und das ich mit Allem auch alleine klar kommen würde. Aber das stimmte nicht. Ich konnte endlich nachvollziehen, warum Sam immer unter Druck stand. Die Beliebtheit hatte eben nicht nur ihre Sonnenseiten. Man war nicht einfach so angesehen. Man musste sich die Anerkennung erhalten. Somit besaß man ziemlich schnell keine eigene Meinung mehr.
Ethan blickte auf mich herab und ich fühlte mich unbeschreiblich erniedrigt. Also strömten die Wasserfälle aus meinen Augen. Plötzlich wurde mir Alles zu viel und ich ärgerte mich, das es wieder einmal Ethan war, der sich nun verpflichtet fühlen musste, sich um mich zu kümmern. Doch anders als erwartet, nahm er mich nicht in den Arm und tröstete mich. Stattdessen machte er es nur noch schlimmer. ,,Du bist so erbärmlich" Er spukte mir die Worte vor die Füße. Mir wurde wieder einmal übel. ,,Eine erbärmliche, arrogante Zicke" Noch ein Schlag. Doch, wie sollte ich mich wehren? Ich lag bereits am Boden, also stellte ich eine entscheidende Frage. Eine Frage, die mich seit Monaten innerlich beschäftigte. ,,Warum hasst du mich nur so sehr?" Er ging einen Schritt zurück. So, als hätte ich ihn damit überwältigt. ,,Das weißt du ganz genau", antwortete er kühl. Da kam wieder die altbekannte Wut in mir auf. Ich gab mir Mühe, aber er blieb trotzdem stur. ,,Nein. Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht, nein", entgegente ich trotzig und putzte mir die Nase. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, weshalb ich ihn überhaupt nicht einschätzen konnte. ,,Schön", sagte er und ließ sich auf meinem Schreibtischstuhl nieder. ,,An dem Abend auf der Party. Bei Micheal. Wir haben uns geküsst und alles war gut. Bis ich..." Er machte eine Pause und seufzte. So, als wäre ihm unangenehm, was er gleich aussprechen musste. ,,Bis ich ich liebe dich gesagt habe. Da bist du ausgetickt und nur in Jeans und BH aus dem Zimmer gestürmt. Ich bin dir nachgelaufen. Unten angekommen hattest du einen Zusammenstoß mit Matty Anderson. Er hat deinen Oberarm gepackt und dich gemustert. Ich habe ihm gesagt, dass er dich loslassen soll, er hat gesagt, dass ich mich um meinen Scheiß kümmern soll und dann hat er sich an dich gewandt" Das klang so, als würde es jetzt erst richtig schlimm werden. ,,Er hat dich gefragt, ob ich dich belästige und du hast genickt. Du hast eiskalt genickt. Und ich war betrunken, weshalb ich mich nicht unter Kontrolle hatte. Deswegen schrie ich, dass ich dir verdammt nochmal nur gesagt hatte, dass ich dich liebe und dass ich das nicht verwerflich finde. Matty hatte mich ausgelacht und du hast mit eingestimmt. Du hast dich über mich lustig gemacht. Eiskalt. Und weil das ganze noch nicht schlimm genug ist, hast du mir auch noch gesagt, das ich besser gehen sollte. Übrigens hat die Szene so ziemlich die halbe Schule verfolgt. Und mit Matty abgehauen bist du schließlich auch noch. Als ich ging hatte ich nur noch gesehen, wir ihr miteinander rumgemacht hattet. Das hat mir den Rest gegeben. Da wusste ich, das ich dir nie etwas bedeutet hatte" Alles um mich herum drehte sich. Das hatte ich ihm angetan? Ich hatte ihn bloß gestellt. Ich. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was war ich nur für eine bescheuerte Kuh. Wieso war ich nicht selbst darauf gekommen? Weil ich es eben nicht für real hielt. Ich war mir nicht bewusst, wie sehr ich Ethan verletzt hatte. Ich spürte wie er mich musterte. Der Mond erhellte mein Gesicht. ,,Du kannst dich tatsächlich nicht erinnern", stellte er nüchtern fest. ,,Ich weiß nicht, ob es das jetzt besser oder schlechter macht", bemerkte er noch. Ich schüttelte den Kopf. Meine Augen fühlten sich aufgequollen an. ,,Es tut mir leid, Ethan. Aus ganzem Herzen. Ich hatte ja keine Ahnung", sagte ich aufrichtig. Er schwieg. ,,Bitte sag etwas. Verzeih mir oder schrei mich nochmal an, aber bitte mach was", flehte ich, da ich die Stille nicht mehr aushielt.
Blitzschnell lag er auf mir und presste seine Lippen auf meine. Automatisch erwiderte ich seinen Kuss. Mein Kopf schaltete auf Durchzug. Es gab nur noch mich und ihn und da wurde mir bewusst, was er damit bezwecken wollte. Doch selbst als er seine Hand über mein Knie legte, brachte ich es nicht fertig ihn zu stoppen. ,,Ethan", probierte ich es, doch er ignorierte mich und sein Kuss wurde drängender. Das hier war aber keine Leidenschaft. Er wollte mir weh tun. Er wollte, dass ich genauso litt wie er. Aber das tat ich bereits. Ich schubste ihn von mir und stand auf. ,,Hör auf!", schrie ich. ,,Ich weiß...", setzte ich an, doch ich wurde von einem Schluchzen unterbrochen. Meine Gefühle überwältigten mich. Er hatte es geschafft. ,,Hier! Da hast du, was du wolltest!", brüllte ich ihm entgegen. Er lag immer noch auf meinem Bett und starrte mich an. Doch er konnte sein Mitleid nicht verbergen. Er wusste, dass er zu weit gegangen war und er wäre noch viel weiter gegangen, wenn ich nicht die Reißleine gezogen hätte. Er hätte es getan und das wurde ihm in diesem Moment bewusst. Und jetzt fühlte er sich schuldig. Ich hatte ihm nicht mit Absicht weh getan. Zumindest wäre ich es in nüchternem, nicht halb komabesoffenen Zustand,anders angegangen. ,,Geh", sagte ich und wieß zur Tür. Er erhob sich und stand vor mir. Ich sah zu ihm auf. ,,Es tut mir leid", sagte er und ich sah auch Tränen in seinen Augen. Nicht nur ich war von meinen Gefühlen überwältigt worden. ,,Mir auch", antwortete ich und sank den Blick. Er ging. Und ich brach zusammen.

The missing girl and her broken pastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt