Der zweite Blick.

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[Wir datieren den 19. März 2015]

Dieses mal öffnet Antonia die Tür zögernder, als beim letzten mal.

Der Geruch der ihr entgegen schlägt widert sie an, genauso wie diese Tür, der Raum mit seinen hellen Wänden, und Rolf Brunner.

Er kann nichts dafür das sie hier her muss, das ist ihr klar.

Er sitzt wieder hinter seinem Schreibtisch. Dieses mal trägt er ein pastellgrünes Hemd, das letzte Mal war es ein weißes gewesen. Auf seiner Krawatte sind Kuchenstückchen abgebildet, wie kindisch.

Behandelt er hier auch Kinder? Hoffentlich nicht, Antonia ist sich sicher dass diese nach ihrer Therapie wohl schlimmer dran waren als zuvor.

Woher ihre bösen Gedanken kommen weiß sie nicht, sie zuckt selbst ein wenig davor zurück.

Antonia drückt die Tür hinter sich ins Schloss, Rolf hebt den Blick, sie bleibt unschlüssig stehen. "Kann ich das Fenster öffnen? Es riecht hier ein wenig penetrant nach Vanille Mango."

Ohne auf die Antwort des Therapeuten zu warten geht das zierliche Mädchen mit den hellen Haaren zu einem der Fenster und öffnet es.
Kurz bleibt sie davor stehen, saugt die frische Luft in sich auf, lässt sich ihre Lungenflügel damit füllen und stößt sie wieder hinaus.

„Geht es ihnen Gut?", Rolf erhebt sich von deinem Platz hinter dem Schreibtisch, kommt auf die zierliche Blondine zu.

„Ja- Nur die Luft", sie dreht sich zu Rolf und lächelt. „Stellen Sie sich mal hier hin, und atmen Sie diese Luft ein, spüren Sie das Gefühl!" Sie macht einen Schritt zur Seite. Rolf stellt sich neben sie, schließt die Augen und atmet ein, er spürt nichts, was sollte er auch spüren?

Er hatte keine Atemnot. Er stößt die Luft wieder aus, und sein Blick liegt auf dem Mädchen.

„Können Sie mir beschreiben was Sie dort fühlen?", fragt er vorsichtig, Antonia sieht ihn an. „Sie spüren es nicht, nicht wahr?"

Rolf schüttelte seinen Kopf.

"Wie auch?", sie lacht, über sich selbst, dann schüttelte sie den Kopf, "Wollen wir dann ?", sie drängt sich an Rolf vorbei zum Schreibtisch.

Kurz atmet Rolf noch einen Zug der frischen Luft ein, bevor er ihr folgt.

"Also, wie geht es Ihnen heute?", begann Rolf seine Sitzung, wie jedes mal, abgesehen von dem Moment davor, am Fenster.

"Keine Ahnung", sagt Antonia und betrachtete ihre Fingernägel.

"Warum wissen Sie nicht wie es Ihnen geht?", abwartend sieht er sie an, ihr Blick liegt noch immer auf ihren Nägeln. Sie sind lackiert, doch der weinrote Lack ist an mehreren Stellen bereits dabei den durchscheinenden Nagel, und die Haut darunter, frei zu geben.

"Ich spüre nichts, keine Emotionen-", nun sieht sie ihn an. Sieht in seine Augen. "Alles ist gleich, gleich Monoton. Ich spüre keine Freude, kein Leid, kein Hass, kein Schmerz, da sind keine Gefühle, nur Leere."

Rolf horcht ein wenig auf.
"Ist Ihnen aufgefallen das sie Freude vor den anderen Gefühlszügen nannten?", fragt er sie, sie schüttelt den Kopf. "Hm- Vermutlich interessiert es dich auch nicht, aber denk mal darüber nach, dass du eine positive Regung der anderen vorstellst."

"Denken soll ich?", Antonia lacht kurz auf. "Ich denke den ganz Tag, für mehr ist kein Platz."

"Gut, nun, worüber denken Sie nach?"

"Soll ich es aufzählen?"

Rolf quittiert ihre Frage mit einem Nicken, sie seufzt.

"Langweilen Sie sich nicht-
Ich denke an Farben, ihre Gefühle, ihre Wärme, ihre Aussage und ihren Sinn nach.
Ich denke an Geschichten. Ich denke an die Maus Frederik, welche ihre Kumpanen mit Farben und Gefühlen durch den Winter geleitet, nachdem die Vorräte alle sind. Ich denke an die kleine Seele die unbedingt vergeben wollte. Ich denke an Michel, und seinen Kopf im Suppentopf nach, über seine Figuren. Ich denke an Bo und die anderen Kinder welche in einem verlassenen Kino in Venedig leben, an Skip welcher sie belügt und ihnen hilft. Ich denke an die Geschichte in der die Sonne verschwand. Ich denke an die Brüder Löwenherz, an die Tauben, die Pferde und an Katla. Ich denke an den kleinen Prinzen, und seine Rose.
Ich denke an Lieder, und ihre Bedeutung. Ich höre ihre Gefühle, und denke darüber nach. Ich denke an die Sterne, die Sonne und den Mond, ich gebe ihnen neue Namen.
Ich denke über mein Leben nach, über meine Schmerzen, über meine Narben. Nein, nicht diese", auf Rolfs fragenden Blick hin streicht sie sich über die innen Seiten ihrer Unterarme. "Ich denke an die Narben welche Sie nicht sehen, die Narben an meinem Herz.", sie schüttelt den Kopf und hört auf zu sprechen. "Das ergibt doch gar kein Sinn das ich Ihnen das Ganze erzähle!"

Mit einem verärgerten Gesichtsausdruck verschränkt sie ihre Arme vor ihrer Brust. Rolf lehnt sich zurück, legt seine Fingerspitzen aneinander und die Stirn in Falten.

"Darf ich Sie etwas fragen?", willig nickt Rolf auf Antonias Frage hin.

"Warum haben Sie ausgerechnet Mango Vanille als Raumduft gewählt? Gibt es nicht noch so viele andere? Zum Beispiel frisch gemähtes Gras, oder der Duft nach Regen?"

"Diese beiden Sorten habe ich noch nie gesehen, aber Sie können mir gerne so einen besorgen", Rolf lacht auf. "Das Mango Vanille hat meine Frau ausgesucht", er lächelt das Mädchen an. Sie nickt, verstehend. "Aber hier geht es ja nicht um den Geruch oder?" Er sieht sie abwartend an.

"Angriff ist die beste Verteidigung", ein gefährliches Lächeln umspielt die Lippen des Mädchens.

"Ich weis das Sie hier widerwillig sind, aber das Ganze hier kann nur mit Ihrer Hilfe funktionieren."

Antonia hebt die Schulter.

"Passen Sie bloß auf, ich versaue Ihnen Ihre Statistiken"

"Ich stelle keine Statistiken auf", Rolf streicht über seine cremefarbene Krawatte, mit diesen lächerlichen Kuchenstücken.

"Ich dachte immer Psychologie hätte mit Mathe zu tun-"

"Das Studium hat damit zu tun, ja, es geht viel um Statistiken, aber ich versuche mich davon fernzuhalten.", er lächelt.

"Warum vertrauen Sie mir Ihre Taktik an?"

"Ich will das Sie mir entgegen kommen, also versuche ich das selbe für Sie zu tun."

"So ein der-Patient-soll-vertrauen-aufbauen- Sache?", Rolfs Mundwinkel heben sich ein wenig.

"Vielleicht ein wenig"

"Dann haben Sie bei mir ins Weiße getroffen, das Schwarze weit verfehlt. Ich vertraue nicht einmal mir selber!", erneut scheinen ihre Fingernägel interesannter als alles Andere.
"Aber Sie erzählen mir was Sie denken, oder viel mehr worüber Sie nachdenken"

"Fühlen Sie sich eigentlich überlegen? So in der Rolle des Psycho-Doktors?", Antonias Augen blitzen aus schmalen schlitzen.

"Das ist keine Rolle."

"Also fühlen Sie sich überlegen!"

"Nein, in keinster Weise!"

"Aber Sie analysieren und erörtern ihre Patienten doch."

"Wir sind hier nicht im Deutschunterricht.", er lächelt.

"Ist Ihnen mal etwas aufgefallen?", sie sieht ihn mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen an, Rolf sieht sie fragend an, hebt eine Augenbraue. "Sie weichen aus wenn ich etwas über Sie frage, und von mir erwarten Sie das ich ihnen Rede und Antwort stehe.", die Blondine erhebt sich, macht sich auf den Weg zur Tür.

"Ich freue mich auf den Tag an dem Sie einmal ihre volle Stunde nutzen, und nicht immer nach der Hälfte die Flucht ergreifen.", schon zückt Rolf den Stift.

Antonia bleibt mit dem Rücken zu ihm an der Tür stehen.

"Ja, schreiben Sie sich ruhig auf das Patientin X/Y erneut fluchtartig den Raum verlässt, das ist mir doch egal.
Ach, übrigens Ihre Krawatte ist lächerlich!", nun drückt sie die Klinke hinunter und verlässt den Raum.

Mit einer Wand, die sie nicht versteht, kann sie auch daheim reden, diese würde wenigstens keine schnippischen Antworten geben. Sie lässt Rolf im Zimmer zurück, dieses mal entflieht sie dem Geruch nach Vanille Mango mit einem leisen Abgang, währenddessen datiert Rolf fein und säuberlich den 19 März in seinen Unterlagen.

Schnell huscht der Kugelschreiber über das Papier, hinterlässt feine Linien.

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