Der dritte Schritt.

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[Wir datieren den 26. März 2015]

"Wie geht es Ihnen heute?", Rolf sitzt wie immer in seinem Lehnstuhl, welchen seine Frau so liebevoll seinen Therapeutenstuhl nennt. Heute hat er ein dunkelrotes Hemd an, wie die Farbe des Weins den er an den Wochenenden so gerne trinkt. Seine Krawatte ist Komplimentär dazu, in einem olivgrün.

"Haben Sie einen Wunsch, was Sie hören wollen?", Antonia sitzt auf der vordersten Kante des Stuhles, die Hände unter den Beinen, die Handinnenfläche nach unten zeigend. Ihre schmalen Beine sind von einer grobmaschigen Netzstrumpfhose umhüllt, welche in der Mitte des Oberschenkels von einem schwarzen Rock überdeckt wird. Ihr T-Shirt ist schwarz, mit der Aufschrift >Keine Liebe<. Rolf betrachtet sie, macht sich Notizen auf seinem imaginären Zettel.

"Nein, ich möchte die unverblümte Wahrheit hören.", Rolf verfällt wieder in seine standard Psychologen-Pose, die Fingerspitzen aneinander gelegt, die zwei Zeigefinger nur Millimeter von seinen Lippen entfernt. Auf seinen Zügen spielt sich das gespielte Interesse.

"Mir geht es Okay.", Antonia zieht ihre Arme unter den Beinen hervor, und verschränkt sie vor der Brust, auch sie nimmt eine typische Pose ein, ihre typische Abwehr-Pose, den Blick auf den Boden vor ihr gerichtet.

"Wie definieren Sie >Okay<?"

"Wie definieren Sie es?", Antonias Blick liegt nun auf ihm, Rolf lässt einen Seufzer verlauten und nimmt seine Hände aus der zuvor eingenommenen Pose.

"Um mich geht es hierbei nicht, ich fürchte da haben Sie etwas falsch verstanden. Sie sind hier damit Sie geschehene Dinge verarbeiten können-"

"Wie Sie schon sagen >geschehene Dinge<, keiner kann sie mehr Abwenden, also wozu das Ganze?", Antonia lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück.

"Um besagte Dinge zu verarbeiten."

"Was gibt es da zu verarbeiten?"

"Der Verlust von Menschen geht nicht Spurlos an einem vorbei", Rolfs Blick wandert unwillkürlich auf Antonias Arme.

"Stimmt." Antonia entschränkt ihre Arme und fährt sich mit zwei Fingern über die Erhebungen der Narben. "Das wollen Sie doch hören, oder? Ich habe mir diese Schnitte zugefügt weil ich den Verlust dieser Menschen nicht ertragen kann, ich fühle mich schuldig, als wäre ich für ihren Tod verantwortlich. Ich weiß das ich es nicht bin, aber haben Sie schon mal versucht einem Kind den Lutscher weg zu nehmen? Es ist schier unmöglich, es wird schreien und sich dagegen wehren! Ich wehre mich dagegen das andere sagen das Ganze sei nicht meine Schuld gewesen. Denn woher sollen die schon wissen ob es meine Schuld war, oder nicht? Woher soll ich es wissen, wenn doch alles in mir danach schreit das ich das Blut dreier Menschen an meinen Händen habe.

Alle diese Schnitte sind da, weil ich den Schmerz meines Herzens kurz nicht spüren wollte. Denn wissen Sie was? Diese Schnitte tun mehr weh als tausend Nadelstiche. Und, das Schlimmste ist wenn Wasser dort heran kommt, es brennt wie Feuer! Aber es nimmt kurz den Schmerz aus meinem Herz. Und, wie heißt es so schön, bekämpfe Schmerz mit Schmerz."

"Was passiert in ihrem Kopf wenn Sie das"- er zeigt auf ihre Arme-" tun? Woran denken Sie?"

"Ich denke gar nichts, ich fühle nur."

„Was fühlen Sie?"

„Schmerz und Erlösung. Ich fühle mich kurz frei.", kurz schleicht sich ein lächeln auf Antonias Lippen. Ein zarter Hauch von Bitterkeit.

„Und was fühlen Sie anschließend? Fühlen Sie Reue oder etwas dergleichen?"

„Nein- sollte ich das?"

„Das ist nicht die Frage!"

„Okay", verunsichert schlägt Antonia die Beine übereinander.

„Wollen Sie damit aufhören?"

„Mit dem Ritzen?", Rolf nickt, kurz scheint das junge Mädchen zu überlegen. „Ich kann nicht aufhören. Es ist wie eine Sucht, es ist wie mit dem Rauchen."

„Wollen Sie es denn? Aufhören?"

„Ich weiß es nicht-", kurz leuchtet Verzweiflung in den Augen des Mädchens auf. „Könnten Sie mir dabei helfen?", lächelnd nickt Rolf.

„Nun, ich sollte vermutlich keine Versprechungen machen, aber ich glaube wir könnten gemeinsam dem Ganzen ein Ende setzten, das wäre ein Anfang."

„Und wie soll das gehen?", kurz lacht sie auf.

„Es gibt immer eine Möglichkeit dem Kind den Lutscher mit einem Trick zu entwenden.", innerlich klopfte Rolf sich für diese, von ihr aufgegriffene, Metapher auf die eigene Schulter. „Haben Sie vom Schmetterlingsprojekt gehört?"

„Sicher!"  erneut lacht sie auf. „Aber auch Edding lässt sich irgendwann abwaschen, und man hat nicht immer einen Stift zur Hand! Außerdem kann man auch so lange auf der Haut herum schrubben bis es schmerzt."

„Okay, es war ein Versuch wert. Haben Sie von >Skills< gehört? Nein? Nun, das macht nichts.
Bei dieser Methode geht es darum den Druck der sich in Ihnen aufbaut auf andere Art und Weise abzubauen, und sich nicht zu ritzen. Wichtig ist das Sie hierfür etwas aktives machen, oder viel mehr etwas ablenkendes. Etwas was sie von Ihrem Drang sich zu Verletzen abhält. Nicht jeder Menschen hat hat den Selben Skill. Es gibt viele Varianten sich davon abzuhalten, für manch einen ist es gut etwas scharfes zu essen, ein anderer brauch den Geruch von etwas abstosendem, oder etwas kaltes im Nacken."

"Nun, ich kann es versuchen", sie betrachtet ihre Unterarminnenseiten.

"Es gibt auch Gruppen in denen man sich mit Anderen über Erfahrungen austauschen kann, die man sammelt, eine solche Gruppe ist sehr empfehlenswert."
Schon sucht Rolf nach einer Broschüre, oder viel mehr einem Praxisinternen Flugzettel und legt ihn vor Antonia auf den Tisch, diese quittiert den Zettel mit einem knappen Kopfnicken. "Diese Gruppen können Ihnen wirklich sehr viel geben, und auch Sie können der Gruppe viel geben.", setzt Rolf hinzu.

„Fühlen Sie sich eigentlich erfahren, oder so?", Antonia sieht Rolf aus schmal zusammen gekniffenen Augen an.

„Im Umgang mit Patienten würde ich mich durchaus als Erfahren bezeichnen, doch in den Themen über die Sie berichten bin ich es vermutlich nicht."

„Nein, das sind Sie auch nicht. Ich wette Sie können all das was hier in dieser Praxis passiert einfach abends mit dem Abschließen der Tür hinter sich lassen, aber das geht nicht jedem so! So sollte es auch Ihnen nicht gehen! Diese ganzen Geschichten sollten Sie doch zumindest berühren, wenn Menschen Ihnen diese ganzen Dinge erzählen verdienen diese Geschichten es nicht in dieser Praxis von ihnen eingeschlossen zu werden!"

„Antonia, ich weiß Ihre Ansichten wirklich zu schätzen, aber hier geht es um Sie, und ihre Schmerzverarbeitung.", wohlüberlegt setzt er eines der Worte hinter das andere, betrachtet das Mädchen dabei, versucht eine Regung auf ihrem Gesicht abzulesen. Doch dieses blickt ihm ausdruckslos entgegen. Die Augen blicken leblos aus schwarz umschminkten Hüllen.

„Nun, dann, dabei brauche ich keine Hilfe, ich möchte nicht darüber reden."

„Das ist in Ordnung. Dann lass uns zu einem anderen Zeitpunkt weiter darüber sprechen, und jetzt über etwas anderes."

„Vielleicht das nächste mal", sie zupft ihren Rock herunter und erhebt sich, dieses mal reicht sie Rolf die Hand, zum Abschied, und verlässt anschließend den Raum, welcher noch immer nach einer Mischung aus Vanille und Mango riecht. Noch Minuten nachdem Antonia die weiße Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte dachte er an den Aufdruck auf ihrem Shirt. „Keine Liebe".
Die Broschüre liegt noch auf seinem Schreibtisch.

Er schüttelte den Kopf um den Gedanken los zu werden, und zeichnete das Treffen des Tages auf, vermerkte ihr Gefühl, ihren Schmerz, er sperrte ein Stück von Antonia Steiner in seine Akte, nur um sie in ein paar Tagen wieder hervor zu nehmen um das Geschriebene zu analysieren.

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