Die ersten Momente

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[Wir datieren den 12. März 2015]

Sie betritt den Raum hinter der weißen Tür. Schon beim Öffnen der Tür schlägt ihr ein beißender Geruch von Raumdufter entgegen. Vanille Mango.

Den Gleichen haben sie daheim im Badezimmer stehen. Sie mag den Geruch nicht, er erinnert Antonia an den Tod.

"Kommen Sie ruhig näher."
Erst jetzt schaut sie den Mann hinter dem Schreibtisch aus Holz an, den Psychodoc.
Der Tisch besteht vermutlich aus Eiche, robust und schön, schlicht.

Zögernd tritt sie näher, bleibt schließlich unschlüssig einen halben Meter vor dem Schreibtisch stehen. "Setzen Sie sich doch." Der etwas ältere Mann lächelt freundlich. Antonia schluckt, dann setzt sie sich auf den roten Plastikstuhl. "Mein Name ist Rolf, Rolf Brunner, wenn Sie nichts dagegen haben können wir uns, in den nächsten Stunden die wir zusammen verbringen werden gerne duzen, ich persönlich finde es immer etwas schwierig dass die Leute einem Fremden so viel persönliche Informationen geben, und ihn dann auch noch siezen, aber die Entscheidung liegt bei Ihnen, Antonia." Erneut lächelt er, er scheint sehr freundlich zu sein, und doch, das Mädchen möchte am liebsten so schnell wie möglich den Raum verlassen, und die weiße Tür hinter sich ins Schloss ziehen. Mit Genuss würde sie auf das Echo lauschen, da ist sie sich sicher.

"Von mir aus?", Antonia sieht scheinbar gelangweilt aus dem Fenster, tiefe Ringe liegen unter ihren schwarz geschminkten Augen.

"Gut, dann fangen wir an." Er legt die Fingerspitzen aneinander und betrachtet das zierliche Mädchen ihm gegenüber. Er versucht sie zu lesen. "Kannst du mir verraten warum du heute hier vor mir sitzt?" Das Mädchen verdreht die Augen, sieht aus dem Fenster, zuckt mit den Schultern. Dann wandert ihr Blick wieder zu dem etwas in die Jahre gekommenen Mann.

"Ich würde sagen damit Sie ihr Geld verdienen", sie sieht erneut weg. Hat sie bemerkt das sie ihn gesiezt hat, fragt Rolf sich.
Wie gerne Er sich jetzt doch Notizen gemacht hätte, doch das verstößt gegen seine eigenen Prinzipien, das muss warten bis nach der Sitzung.

"Nicht ganz" Er sieht das Mädchen nachsichtig an. "Sei ehrlich", fordert er sie auf.

"Meine Eltern wollten das ich komme", seufzt sie.

"Warum wollten sie das du kommst?"

"Weil ich in der Nacht lieber am Fenster stehe als zu schlafen, und dergleichen." Sie sieht auf ihre Hände, beginnt sie zu knoten. Ein Finger über den Anderen.

"Warum standest du am Fenster?" In seinen früheren Jahren hätte Rolf langsam die Geduld mit dem Mädchen verloren, doch inzwischen bringt ihn das ganze aus-der-Nase-ziehen-Ding nicht mehr so schnell aus der Fassung. Es ärgerte ihn jetzt nicht einmal mehr.

"Weil ich keine Luft mehr bekomme", jetzt sieht sie ihm direkt in die Augen. Schmerz, Verlust, und noch etwas anderes, etwas undefinierbares, sprechen daraus. "Du hast Schweigepflicht oder? So als Psychodoc?", fragt sie nun, Rolf nickt. "Gut." Sie scheint erleichtert, "Schreibst du den gar nicht mit?", fragt sie dann leicht irritiert, Rolf schüttelt den Kopf und lächelt. "Warum den nicht?"

Er lächelt viel, denkt sie, während sie ihm so gegenüber sitzt. Vielleicht ist sein Lächeln sogar überlegen. Auf jeden Fall wirkt es nicht so als sei ihm danach, als wäre es ganz natürlich. So wie eines der lächeln was man nicht verhindern kann, da wo die Mundwinkel einfach nach oben zucken. Es ist eines was nicht unfreundlich ist, aber wirkt als setze er es ganz gezielt ein.

"Weil keiner sich gerne öffnet wenn einer sein Verhalten genauestens dokumentiert. Das hat mich die Erfahrung gelehrt." Erneut ziert ein Lächeln die leicht zerknitterten Züge des Mannes hinter dem mutmaßlichen Eichentisch.

"Oh, ja, schon verständlich oder?", fragend sieht sie ihn an.

"Sicher!", Rolf nimmt die Finger auseinander, diese Pose wird auf die Dauer unbequem. "Also, du sagtest, bevor du das Gespräch in eine andere Richtung gelenkt hast, dass du keine Luft mehr bekommst, kannst du das beschrieben?", nun liegen seine Hände auf seinem Schoß.

"Hast du schon einmal geweint?", ihre Augen sehen ihn aufmerksam an.

Natürlich.

"Sicher!" Er sieht sie an. Jeder hat schon einmal geweint- wirklich jeder. Diese Frage muss rhetorisch gewesen sein, in seinem Hinterkopf macht Rolf sich Notizen.

"Dieses Gefühl, kurz davor, wenn es einem die Luft abschnürt, man nicht mehr atmen kann, die Luft einfach nicht mehr rein geht, in die Lunge-", sie schüttelt den Kopf und bricht ab. Warum erzählt sie ihre Probleme diesem alten Mann?

"Hast du etwas gefunden was hilft?"

"Säße ich dann hier?"

"Nun, deine Mutter hatte von mehreren Schicksalsschlägen in deinem Leben erzählt- Es ist möglich das-"

"Ach, wollen Sie hören was alles passiert ist?", sie schnaubte verächtlich. "Lesen Sie das doch in der Akte." Sie fährt sich mit der Hand über die Innenseiten ihrer Arme, über Narben.

"Sind wir wieder in das 'Sie' gerutscht? Okay. Du musst wissen das ich darauf nicht hinaus wollte. Ich wollte versuchen zu Erfahren ob diese Ereignisse mit deiner Atemnot zusammenhängen." Erneut legt Rolf die Finger aneinander.

"Ja, ich schätze schon." Sie sieht aus dem Fenster. "Ja, es gibt Zusammenhänge! Natürlich gibt es die!", sie schüttelt traurig den Kopf, dann sieht sie ihn wieder an. "Warum ist Ihnen das 'Du' so wichtig?"

Sie kann das gut, denkt Rolf, vom Thema ablenken.

"Ich glaube das 'Du' schaft die Grenze des nicht erzählen wollen ein wenig zur Seite. Aber es ist jedem selbst über lassen ob ich ihn oder sie duze oder sieze."

"Können wir beim Sie bleiben? Es behagt mir nicht das ich Sie duze wie meine Ma.", sie sieht ihn herausfordernd an.

Rolf neigt den Kopf. "Wie Sie wünschen."

"Danke"

"Kommen wir auf die Atemnot zurück-"

"Ich will mit Ihnen nicht darüber reden", sie streicht sich durch das helle Haar, ihre Augen wirken auf ein mal schrecklich leer. "Ich bin doch nur eine von vielen Patienten die Ihnen irgendwelche Dinge erzählt, Sie schreiben diese dann hinterher auf, und beobachten meine Entwicklung! Toll! Aber ich erzähle nicht über mich, ich mag das nicht! Ich behalte die Dinge, die mich wirklich beschäftigen, lieber für mich!", einer ihrer Fingernägel schrabt über einen der verkrusteten Schnitte.

"Hast du dir die zugefügt?", er zeigt auf ihre Schnitte sie lacht auf.

"Nein! Die sind von ganz allein dort hin gekommen!", sie steht auf, nimmt ihre Tasche. "Wissen Sie was? Es geht Sie doch überhaupt nichts an ob ich mich ritze, Blut spende, oder was auch immer, und ob ich das Gefühl habe keine Luft mehr zu bekommen und zu ersticken! Denn ich atme ja noch, wie es aussieht, leider atme ich noch, und alle Anderen um mich herum hören damit auf! Das ist nicht gerecht!", schnell  verlässt sie den Raum, die Tür knallt ins Schloss und Rolf sitzt alleine in seinem Sprechzimmer, vor ihm die Akte, geschlossen.

"Bis nächste Stunde Antonia", sagt er mit seiner Therapeuten Stimme, dann beugt er sich vor, öffnet die Akte und beginnt zu schreiben. Schnell huscht sein Stift über das Papier. Zieht Linien welche sich zu Worten zusammensetzen, aus Strichen und Schnörkeln. Sauber und ordentlich datiert er den zwölften März 2015 in der Akte der Antonia Steiner.

Wortlose DialogeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt