Der fünfte Schnitt.

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[Wir datieren den zehnten April 2015]

An diesem Tag liegt kein Glanz in den Augen des Mädchens, kein Schmerz, keine Freude, nur Leere.

Ihre blonden Haare sind von bunten Stränen durchzogen und ihre Arme sind vom zarten Stoff einer Bluse bedeckt, welche in einem weinroten Rock steckt. Durch den dünnen Stoff sieht man die Linien an ihren Armen, so wie das Muster ihres BH's schimmern, doch Rolf besitz genügend Selbstachtung, ebenso wie Achtung vor dem Mädchen, diese Tatsache zu ignorieren. Er sieht ihr in ihre graublauen Augen und versucht darin irgendetwas zu finden.

Schon eine Weile sitzen sie sich dort so, gegenüber.

"Wie geht es Ihnen Antonia?", fragt er schließlich, ihr Blick findet den Seinen, kurz verharrt sie mit ihrem Blick in seinen Augen, dann schweift ihre Aufmerksamkeit wieder fort und festigt sich irgendwo im leeren Raum hinter Rolf und seinem Leder Sessel.

"Es geht mir nicht gut", sagt sie schließlich mit zitternden Lippen.
"Wissen Sie woran das liegt?", fragt Rolf sie, eine von so vielen Fragen die für ihn Routine geworden waren. Er nahm nicht mal mehr die Bedeutung der Worte wahr, die er dort voreinander setzte.

"Ich fühle mich leer und mir wird alles zu viel.", sie beißt auf ihrer Unterlippe herum, damit diese aufhört zu zittern.

Die Leere von der sie spricht sieht er in ihren Augen und das zu viel werden der Dinge sähe er auf ihren Armen, wenn er den Blick senken würde. "Können Sie mir das genauer beschreiben?"

"Nun, mein Herz fühlt sich an wie ein Stein, ein schwerer Stein. Meine Lungen lassen kaum noch Luft ein und das Schlucken fällt mir schwer. Erinnern Sie sich noch an den März, wo ich keine Luft zu bekommen glaubte? Damals waren meine Atemwege wohl doch noch frei, denn nun ersticke ich fast an meiner eigenen Leere."

Und wie Rolf sich daran erinnerte, als das junge Mädchen dort vor dem geöffneten Fenster stand, und er erinnerte sich ebenso an das was sich in ihm geregt hatte als sie da so stand, und er erinnerte sich an den Raumduft, Mango- Vanille, den er nun durch Lavendel ersetzt hatte. Rolfs schultern sackten bei der Erinnerung an damals leicht hinab und er musste einmal schwer schlucken, dann fasste er sich wieder.

"Ja, ich erinnere mich. Und könnten Sie mir das mit dem zu viel werden der Dinge nochmal beschreiben?", sie lächelt kurz, ohne wahres Gefühl in Auge und Herz und seufzt erneut.

"Ich- wenn viele Menschen da sind, gerade viel passiert, dann- manchmal will ich mir einfach nur die Ohren zuhalten und schreien, damit sie alle endlich aufhören mit ihrem Gerede, und Getue. Es drückt mich alles nieder und ich muss mich in der Öffentlichkeit immer beherrschen nicht meine Fingernägel in meine Haut zu bohren, oder mir selbst mit meinen Händen blaue Flecken aufs Bein zu zaubern.", nun wandert Rolfs Blick doch tiefer, auf die Arme des Mädchens. Es sind keine neuen Schnitte auf der feinen, weißen, Haut zu sehen.

"Sie verletzen sich nicht mehr selbst?", stellt er fest, es ist zwar wie eine Frage formuliert, so war es auch gemeint, doch es verlässt als Feststellung seine Lippen, erneut ziehen sich ihre Mundwinkel nach oben, erneut ohne Regung.

"Nein", sagt sie und schweigt dann wieder.

"Das ist gut!" Er schenkt ihr ein Lächeln, das wärmste, was er zu Stande bringt und muss gleichzeitig widerstehen, der Gewohnheit zum Trotz, in seine alt gewohnte Psychologen Haltung zu fallen.

"Vermutlich", gibt sie zu. "Allerdings ist alles dadurch schlimmer geworden."

"Trotzdem ist es gut, damit aufgehört zu haben. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Darauf kann ein zweiter und ein dritter Folgen. Sie können beginnen die Treppe empor zu klettern. Nun müssen wir nur noch schauen was wir gegen die Atemnot und das zu viel werden machen können und danach wenden wir uns den nächsten Problemchen zu. Ist das ein Plan?", sie nickte zögernd, auf seine Frage hin. Dann lächelt sie, diesmal mit dem Gefühl der Hoffnung auf den Zügen.

"Dann lass uns nun über unsere nächstes Projekte sprechen.", Rolf lehnt sich auf seinem Sessel nach vorne und rutscht weiter nach vorne, die Rollen des Stuhls folgen seinem Befehl mit leisem Rattern.

"Lass uns das tun", Antonia straft ihre Haltung, setzt sich gerade auf den Sessel, der erst vor ein paar Wochen den Stuhl abgelöst hatte

"Gut. Du sagtest, du würdest manchmal gerne schreien, warum tust du es nicht?"

"Haben sie schon mal ein schreiendes Mädchen irgendwo gesehen, in der Metro, oder auf einem Platz?", sie schüttelt den Kopf. "Ich schreie Zuhause, wenn ich dort bin und mir danach ist, allerdings nur in mein Kissen. Es muss ja keiner Wissen was ich fühle, oder?"

"Was fühlen Sie denn?"

"Wenn ich das wüsste-", sie lächelt erneut, diesmal niedergeschlagen.

"Dann finden Sie es heraus, schreiben Sie Ihre Gedanken auf. Versuchen sie den ganzen Müll hier", -er tippt gegen seine Stirn- "raus zubringen.

Sie lächelt und nickt. "Ja Sócrates, ich werde es versuchen!" Kurz leuchten ihre Augen auf, dann nimmt sie ihre Tasche zur Hand und erhebt sich.

"Unsere Zeit ist beinahe um, und ich möchte Ihnen nicht die von mir gewohnte Pause nehmen.", sagt sie, und bevor er noch etwas sagen kann ist sie verschwunden.

Kopfschüttelnd lehnt er sich zurück, verfällt trotz seiner Bemühungen in die Psychologen Pose, und denkt nach. Wie hat sie ihn genannt? Sokrates?

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