Kapitel 6

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Am nächsten Tag versuchte ich Dylan aus dem Weg zu gehen, was erstaunlich gut klappte. Bis zur zweiten Pause sah ich ihn gar nicht. Dann stand er da, mit Lorenzo, Eleanor und einigen Cheerleadern. Ich hatte außer ihnen eigentlich kaum Freunde in der Schule, deshalb wusste ich nicht, wo ich jetzt hingehen sollte. Gerade als ich beschloss, die Pause auf der Toilette zu verbringen, spürte ich einen Arm auf meiner Schulter. „Hey, Süße!", begrüßte Ted mich. „Alles klar?". Ich nickte, aber ich spürte, wie die Emotionen in mir aufstiegen und die Tränen über meine Wangen flossen. Schluchzend fiel ich in Teds Arme. Er hielt mich fest und versuchte mich zu trösten: „Hey, Süße, was ist passiert? Was ist denn los?". Als ich mich ein wenig gefasst hatte, erklärte ich: „Ich... Dylan. Ich hab euch gestern belauscht. Du weißt schon, dass er nichts Ernstes will und sowas.". Und als ich es aussprach, musste ich wieder weinen. Ted sah mich dabei stirnrunzelnd an. „Kylie, also ich finde sowieso, dass du dich von ihm fernhalten solltest. Ich meine, er ist ganz nett, aber es gibt noch so viele Sachen, die du nicht über ihn weißt, du kennst ihn ja gar nicht richtig. Allerdings...", stockte er dann zweifelnd. „Du hast wohl gestern nicht alles gehört. Er... Also wie gesagt, ich finde das ist keine gute Idee mit euch beiden, aber wenn du ihn wirklich magst, dann rede noch einmal mit ihm. Er ist... Ich glaube, er hat dich gern. Aber... Aber nur, wenn es dir echt so wichtig ist, okay? Und bitte... Sei vorsichtig bei ihm.", meinte er dann widerwillig. „Was hat er gesagt? Und wieso traust du ihm nicht? Ihr seid doch Freunde, oder?", fragte ich, jetzt neugierig. Ted schüttelte nur den Kopf. „Am besten vergisst du ihn einfach.", sagte er dann und verschwand zu seiner neuen Freundin, Jenny. Als ich zusah, wie sich die beiden leidenschaftlich küssten, wusste ich nicht, ob ich Teds Worten Glauben schenken sollte. Ich sollte es ernst meinen mit Dylan, aber er wechselte alle paar Monate seine Freundin. Zögernd sah ich zu Dylan herüber. Ich müsste einfach mal den Mut aufbringen ihm alle meine Fragen direkt zu stellen. Unentschlossen musterte ich ihn und meine Freunde, die um ihn herum standen. In diesem Moment blickte er ebenfalls zu mir. Falls er bemerkt hatte, dass ich ihm aus dem Weg gegangen war, so ließ er sich nichts anmerken. Er grinste mich fröhlich an und vertiefte sich dann wieder in das Gespräch. Ich wusste nicht, wie lange ich es schaffen würde, ihn zu ignorieren. Er war mir sehr ans Herz gewachsen, vor allem in den letzten Tagen. Je mehr ich über ihn nachdachte, desto mehr wollte ich mit ihm sprechen.

Als ich nach der letzten Stunde das Schulgebäude alleine verließ, war ich schon wieder kurz vor einem Zusammenbruch. Meine Laune sank in den Keller, als ich Dylan entdeckte, der wie immer lässig an seinem Motorrad lehnte. Er beobachtete mich, jeden Schritt von mir. Ich lief nicht in seine Richtung, aber er hatte mich schon eingeholt, bevor ich überhaupt den Parkplatz verlassen hatte. „Kylie!", rief er mir zu. Unsicher blieb ich stehen und wartete, bis er mich einholte. Das war dann wohl der Zeitpunkt, an dem ich einfach gerade heraus fragen müsste, was los war. Ich sammelte all meinen Mut, als er fragte: „Was ist denn schon wieder los? Irgendetwas hast du doch, oder?". Vorsichtig nickte ich. Dann holte ich tief Luft und sprudelte heraus: „Ich habe dich und Ted gestern gehört. Im Ocean. Als du gesagt hast, dass du hier nichts Ernstes willst. Und dich von mir fernhalten willst. Ich habe das Gefühl, desto mehr Zeit ich mit dir verbringe, desto weniger kenne ich dich. Mal bist du total süß und dann wieder bist du kalt und abweisend. Ich kann dich nicht einschätzen und ich weiß nicht, was du in mir siehst oder ob du...", ich stockte und schluckte, um meine Tränen noch zurückzuhalten, „ob du nur mit mir spielst und was mit dir und Anastacia ist, weiß ich auch nicht. Und als ich dich das letzte Mal danach gefragt habe, hast du gesagt, dass ich von dir denken kann, was ich will und dann hast du mich ignoriert. Wenn du das jetzt wieder tun willst, bitteschön! Ich bin fertig." Ich hatte mich in Rage geredet und war jetzt richtig wütend. Und damit starrte ich böse in sein verblüfftes Gesicht und drehte mich dann schnurstracks um und ging. Von meiner Seite war alles gesagt. Ich ging zu Fuß nach Hause, langsam und nachdenklich. Als ich ankam, empfing meine Mutter mich und wollte mit mir essen, aber ich ging ohne Umwege in mein Zimmer und schloss die Tür. Dann sackte ich an der Wand zusammen und gab einen erstickten Schluchzer von mir. Was war bloß los mit mir? Wieso empfand ich so für diesen Jungen, den ich kaum kannte und der mich jetzt schon so fertig machte? Ich kannte dieses Gefühl nie. Und so wie es im Moment aussah, wollte ich es am liebsten direkt wieder vergessen. Ich aß nichts, trank nichts, versteckte mich in meinem Zimmer. Am nächsten Tag entschuldigte meine Mutter mich in der Schule, weil sie dachte, ich sei krank. Später schrieb Eleanor mir, sie würde vorbei kommen. Sie war die beste Freundin, die ich je hatte. Und der glücklichste Mensch, den ich je kannte. Gegen eins klingelte es. Eleanor konnte es nicht sein und auch Ted nicht, denn die letzte Stunde hatte gerade erst begonnen. Also blieb ich in meinem Zimmer und lauschte, wie meine Mutter Jemanden begrüßte. „Kylie!", rief sie dann verärgert, „Besuch für dich." Ich fragte mich, wer das sein mochte. Als die Tür zu meinem Zimmer aufging, erkannte ich den dunklen Schopf sofort. Es war Dylan. Ich drehte mich zur Wand, sodass er nicht sehen konnte, wie fertig ich aussah. „Was willst du?", fragte ich leise. „Mit dir reden.", erwiderte er bestimmt. Jetzt drehte ich mich doch um und sah ihn erwartungsvoll an. „Ich schulde dir eine Erklärung, für das, was ich gesagt habe.", fuhr er fort. „Kylie, ich will mich von dir fernhalten, weil es das Beste ist. Damit ich dich nicht verletze!", sagte er eindringlich. Ich lachte bitterlich auf. „Zu spät.", meinte ich mit einem gequälten Lächeln. Er sah mich mit traurigen Augen an. Ich sah verschwommen zurück, mir stiegen wieder Tränen in die Augen. Er nickte betrübt. „Ich weiß. Und es tut mir Leid. Kylie, es war niemals meine Absicht dir weh zu tun, das musst du mir glauben! Das ist das Letzte, was ich will.", sagte er leise. Ich gab mir keine Mühe mehr die Tränen aufzuhalten. Dann sah er mich eben weinen. „Und was war das mit Anastacia? Und wieso willst du nichts Ernstes? Liegt es an mir? Was mache ich denn falsch?", brachte ich schwer atmend hervor. Er zuckte mit den Schultern. „Ich will keine ernsthafte Beziehung anfangen, weil ich nie weiß, wie lange ich an einem Ort bleibe. Das wäre unfair. Ich könnte morgen schon am anderen Ende der Welt sein. Und das mit Anastacia... Das kannst du mir glauben, das ist nichts von Bedeutung.", erklärte er mit einem sachlichen Ton. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. „Du warst also noch nie mit einer zusammen, die du mochtest, aus Angst diejenige zu verletzen?", hakte ich nach. Er nickte. Ich schüttelte den Kopf. „Wieso? Was ist, wenn... Keine Ahnung, wenn du deine große Liebe verpasst, aus Angst sie zu verletzen?", platzte ich heraus und bereute meine Worte im selben Moment. Ich sagte genau das, was Eleanor vor einiger Zeit zu mir gesagt hatte. Die große Liebe. Aber er lachte nicht darüber. „Dylan, es fühlt sich gut an mit dir. Irgendwie... richtig.", sagte ich und meinte es ehrlich. Er nickte. „Glaub mir, wenn du mir nicht so unglaublich wichtig wärst, würde ich das jetzt nicht machen. Aber ich will nicht, dass du leidest, wenn ich gehen muss. Es ist besser so, vertrau mir!", verkündete er und mit diesen Worten stand er entschlossen auf. Bevor er die Tür schloss, sagte er noch: „Es tut mir Leid." Er schenkte mir ein schiefes Lächeln, was unglaublich süß war und dann war er weg. Niedergeschlagen saß ich auf meinem Bett. Tränen kullerten meine Wangen herunter und wieder verspürte ich diese Leere. Vielleicht hat es einfach nicht sein sollen. Ich versuchte mich mit dem Gedanken anzufreunden, mit ihm nur befreundet zu sein, bis Eleanor kam. Ich berichtete ihr jedes Detail und sie hörte sich alles an. Sie tröstete mich, nahm mich in den Arm und schaffte es schließlich, mich zum Lachen zu bringen.

Am nächsten Tag blieb ich noch zu Hause, danach ging ich schweren Herzens wieder in die Schule. Ich war darauf vorbereitet meine Gefühle für Dylan zu verdrängen, aber er war gar nicht da. Auch am nächsten Tag fehlte er und auch die beiden folgenden Tage tauchte er nicht auf. Nach vier Tagen fragte ich Ted und Lorenzo, ob sie wüssten, wo er sein könnte, aber sie wussten es auch nicht. Keiner wusste es. Auch die nächste Woche blieb sein Platz an unserem Tisch im Ocean frei und auch in der Schule war er weiterhin nicht zu sehen. Es verging eine weitere Woche und noch eine und noch eine. So langsam hatte ich das Gefühl, dass er sich selbst aus meinem Leben verbannt hatte. Er würde nicht wiederkommen, soviel war sicher. Und irgendwann würde ich beginnen ihn zu vergessen. Noch nicht heute und auch noch nicht in einem Monat. Aber irgendwann würde ich Jemanden finden, für den ich so empfinden könnte, wie ich für Dylan empfand. Ich vermisste ihn. Ich musste beinahe lachen, als ich an seine Worte zurückdachte. Er wolle nicht, dass ich leide, wenn er gehen müsse. Aber ich litt. Und wie ich litt. Ob er damals wohl schon wusste, dass er gehen würde? Eleanor verbrachte viel Zeit mit mir und auch Ted und Lorenzo sorgten für mich. Ich hatte drei gute Freunde, die mich unterstützten und so glitt ich langsam, aber sicher in den Alltag zurück. Den Alltag, bevor Dylan auftauchte. Den immer gleichen Alltag, den ich seit 17 Jahren an dem

immer gleichen Ort lebte, mit den immer gleichen Leuten, mit denen ich immer das Gleiche unternahm. Bis auf diese eine Ausnahme. Diese Ausnahme, die jetzt wieder aus meinem Leben verschwunden war. Als wäre sie nie dagewesen. Irgendwann dachte ich nicht mehr so oft an ihn, weinte nicht mehr für ihn, litt nicht mehr. Irgendwann war alles wieder beim Alten. Ich vergrub mich in Schulaufgaben, ging ins Ocean, verbrachte die Sommerferien mit meinen Eltern in Frankreich. Es war, als wäre nie etwas passiert. Meine Eltern vertrauten mir wieder. Ich lebte wieder in der gewohnten Monotonie. Jeder Tag verlief gleich. Aufstehen, fertig machen, essen, Schule, essen, Hausaufgaben, essen, schlafen. Aufstehen. Es hatte etwas Bedrängendes, dem man nicht entfliehen konnte. Ich dachte nicht gerne an die kurzen Wochen zurück, in denen dieser eine Junge mich kurz davon befreit hat, das Leben aufzugeben. Als er mir gezeigt hatte, wie schön es sein kann, an den richtigen Orten, mit den richtigen Menschen. Aber nun lebte ich wieder in der eintönigen Trostlosigkeit, ohne zu wissen, dass es je etwas Anderes gab. Bis zu diesem einen Tag.

Meine große LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt