20 - Die Trolle

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„Du musst still sein. Nur weil sie uns nicht sehen können, heißt das nicht, dass sie uns auch nicht hören können!", flüsterte Michael. Er war gereizt, aber ich hatte keinen Nerv, mir auch noch um ihn Gedanken zu machen. Ich wäre gerne noch länger in Jasons warmen Armen liegen geblieben, aber Gabriel hatte sanft an die Tür geklopft, um mir mitzuteilen, dass es dringend an der Zeit war, zu gehen. Das hob meine Laune überhaupt nicht. Wenn er wüsste, was ich gerade am liebsten mit ihm angestellt hätte. Fiona, reiß dich zusammen. Ein Feind nach dem anderen. Ich atmete einmal tief ein und aus, dann legte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Trolllager vor uns. Wir waren inTehuacán, einer Kleinstadt Mexikos. Hinter einem Hügel hatten wir uns versteckt und starrten gerade auf ein großes, leeres Feld. Das einzige, was darauf hindeutete, dass dies ihr Lager sein musste, war eine kleine Einkerbung in der Erde. Oh ja, und natürlich der Leichenhaufen zwanzig Meter vor dem Eingang. Irgendwie hatten sie es geschafft, nicht allzu große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während sie ihr Lager unter der Erde ausgegraben hatten. Diejenigen, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, hatten sie fast komplett aufgefressen und ihre Überreste auf einen Haufen geschmissen. Der Großteil waren Knochen an denen noch etwas Fleisch hang. Aber es lagen auch noch fast unversehrte Körper um den Knochenhaufen herum. Ihnen war lediglich der Bauchraum geöffnet und ihre Innereien entfernt worden. Welche Verschwendung. Es mussten ungefähr dreißig Menschen sein, die hier ihren Tod gefunden hatten.

„Seit wann besteht dieses Lager?". Ich hatte mich an keinen bestimmten Engel gewandt, mein Blick lag immer noch fasziniert auf dem Leichenberg.

„Vor drei Tagen haben die Morde in diesem Stadtteil angefangen." Kurz und bündig, wie immer Bariel. Er war schon ein seltsamer Engel. Immer in sich gekehrt, still und bescheiden. Na gut, bescheiden waren sie alle, aber Bariel... einfach mehr.

„Sechs Trolle. Jedenfalls die, die an die Oberfläche kommen dürfen. Wahrscheinlich befinden sich da unten noch mehr Leichen und Knochen.", sagte ich, mehr zu mir selbst, als zu den anderen. Michael hatte uns mit einem seiner Zauber abgeschottet und trotzdem bestand er darauf, dass wir uns hinter einem Hügel versteckten. Aber ich musste näher ran. Um besser Bescheid zu wissen, musste ich über ihrem Lager stehen. Ich materialisierte mich direkt auf der Mitte des Platzes, wo wir ihr Lager vermuteten. Schnell legte ich meine Hände auf die Erde, streckte meine magischen Fühler aus und erkundete damit die Erde unter mir. Dumpf hörte ich Michaels Proteste, aber ich blendete alles aus. Eins muss man den Trollen schon lassen, sie waren flinke Arbeiter. Kilometerlange Kanäle erstreckten sich in alle Windrichtungen. Diese Mistviecher waren schlau, sie hatten keinen einzigen Kanal genau übereinander gebaut. Man könnte die Kanäle sonst leicht einstürzen lassen und somit alle lebendig begraben. Sie reichten ungefähr hundert Meter in die Tiefe. Verdammt! Mit einem Sprung war ich wieder an Gabriels Seite.

„Tu das nicht noch einmal!"

„Wie hättest du denn herausgefunden, wie viele Trolle sich da unten verstecken? Wärst du lieber da hingegangen und hättest an die Tür geklopft, in der Hoffnung, jemand würde aufmachen und dir freundlich beschreiben, wie es dort aussieht und wie viele von ihnen hier sind?". Was war denn nur los mit Michael? Ich verstand ja, dass er mich nicht leiden konnte. Auch wenn ich vor Kurzem erst dachte, er wäre netter zu mir geworden. Aber die letzten paar Tage war er wirklich unausstehlich. Ich bekam nur ein Grunzen zur Antwort. Mehr hätte ich auch nicht erwartet.

„Fiona, wie viele Trolle befinden sich dort unten?", eine kleine Spur von Angst schlich sich in Gabriels Stimme. Ich konnte es ihr wirklich nicht verübeln, ich fühlte mich nicht viel besser als sie."

„Anhand der kurzen Zeit und der Anzahl der Kanäle, würde ich ungefähr hundert Trolle schätzen. Aber genau kann ich es nicht sagen." Es herrschte Schweigen. Ich wusste, was sie sich jetzt alle dachten, die Frage, die sich nun in ihren Köpfen breitmachte und sich festsaugte wie eine Zecke. Wenn sich hier schon, in einem kleinen Dorf, über hundert Trolle aufhielten, wie viele werden es dann in Großstädten und wie viele insgesamt auf der ganzen Welt verteilt sein? Wenn sie sich alle gleichzeitig erheben, und das werden sie, wird die Rasse Mensch innerhalb von drei Tagen ausgestorben sein.

The other sideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt