5 - Catena / Kette

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Ich konnte es nicht fassen. Das kann doch nicht wahr sein! Ich versuchte, mich umzudrehen, einen Blick auf meinen Rücken zu werfen, aber ich war zu aufgedreht. Konnte es wirklich wahr sein? Ich musste unbedingt einen Ort finden, an dem ich allein sein konnte. Aber ich war auf dem Broadway, in Manhattan! Ich konnte mich nicht beruhigen, ich musste aber, denn nur dann könnte ich in mich hinein fühlen. Aber es würde nicht reichen. Ich musste ihn sehen, umarmen, sein weiches Fell durch meine Finger gleiten lassen. Ich ging die ganze Zeit ziellos umher, um einen verlassenen Ort zu finden. Eine Gasse, ein offener, verwahrloster Keller... irgendetwas. Ich war so aufgeregt und durcheinander, dass ich nicht wusste wohin, obwohl das mein Revier war!

"Jetzt komm schon, reiß dich etwas zusammen! Denk nach, verdammt, denk nach!", ich versuchte, mich zu beruhigen. Ich dachte daran, wie es wäre, ihn lebendig bei mir zu haben. Wie sein Geruch nach Mandelholz, Wald und Freiheit sich in mir ausbreitet und michbei jeder Berührung beruhigt. Ich versuchte, mit ein paar tiefen Atemzügen, einen klaren Kopf zu bekommen. Der Platz in mir, der so leer ist, wenn er gerade seine Freiheit genoss, war verschwunden. Ich war vollkommen. Nach zehn Minuten des Suchens fand ich zu meiner Rechten eine kleine Seitenstraße. Ich bog ein, vergewisserte mich, dass sich niemand dort befand. Hier stank es bestialisch. Es kam mir vor als hielte mir gerade jemand ein Tuch unter die Nase, das in Urin eingetaucht war. Ich ging ein paar Schritte weiter, um der Quelle dieses abscheulichen Gestanks zu entkommen, aber es half nichts. Es war mir ehrlichgesagt egal, es scherte mich nicht, ob mir der Gestank Tränen in die Augen trieb, solange ich dafür Jak wiedersehen durfte. Es war mir auch vollkommen egal, ob uns irgendjemand sehen würde.

Es war dunkel aber dank meiner Nachtsicht konnte ich jeden Winkel der düsteren Gasse erkennen. Links und rechts von mir ragten graue, alte Häuser in die Höhe. Der Putz bröckelte fast überall ab, aber das kümmerte hier keinen mehr. Die Wohnungen waren alle verlassen, wenn, dann begaben sich nur Junkies hinein, um sich dort den nächsten Schuss zu geben. Früher oder später werden sie sie einreisen lassen und futuristische Gebäude bauen. Alles Büros für noch mehr Wirtschaftskram oder teure Hotels für großkotzige, reiche Menschen. Irgendwann werden sie sich gegenseitig umbringen und ich werde zusehen und warten bis all die unzufriedenen und selbstverliebten Seelen bei uns hereinspazieren und ich mich ihrer verzehren kann, dachte ich selbstzufrieden.

Hinter einem verbrannten Müllcontainer ging ich in die Hocke. Ich ließ ein Schutzschild um mich herum erscheinen, um vor neugierigen Blicken geschützt zu sein. Falls ich mich nicht zu viel ablenken ließ, würde es reichen. Ich schloss meine Augen, konzentrierte mich darauf, ihn gehen zu lassen, die Fesseln, die ihn an mich banden, zu öffnen, aber es ging nicht. Ich versuchte es erneut, aber ich konnte nicht loslassen.

"Was zum Henker!", fluchte ich vor mich hin. Was war los? War er doch nicht da? Spielte mir mein Bewusstsein einen Streich? War er doch tot und ich allein? Allein in der abgrundtiefen Leere? Aber der Mann, dieser prachtvolle Kerl von einem Mann hatte ein Tattoo auf meinem Rücken gesehen, er musste also da sein! Ich versuchte, an meinem Fransen-Shirt mit den Händen die Öffnungen zu vergrößern, um einen besseren Blick auf meinen Rücken zu bekommen. Ich sah ihn, er war da. Mein wundervoller Jak war da. Wieso also konnte ich ihn nicht befreien?

Noch einmal schloss ich meine Augen und versuchte, mich zu konzentrieren. Es war nicht einfach, überall auf dem Boden war es voll von menschlichen Ausscheidungen und sonstigen undefinierbaren Substanzen. Ich fühlte in mich hinein, ging auf die Suche nach Jak. Wo war er? Ich suchte und suchte. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit bis ich ihn endlich gefunden hatte. Ganz in den Tiefen meines Selbst, von Ketten, so dick wie der größte Ast eines Baumes, umgeben, lag er da und sah mich mit traurigen Augen an. Wieso waren so viele Ketten da? Weshalb waren sie so dick? Das dürfte so nicht sein. Nicht so! dachte ich, der Hysterie nahe.

The other sideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt