Liebes Tagebuch,
Wie lange ich dich nicht mehr in die Hand genommen habe...ich dachte wirklich es würde aufhören. Dass ich hier nicht mehr schreiben würde. Doch ich hab mich getäuscht. Und wie! Es ist schlimm, schlimmer denn je. Natürlich war es schon grausamer und zerfressender, aber ich bin wieder an einem gewissen Tiefpunkt angekommen, an dem ich nicht sein will. Jeden Tag...jeden verdammten Tag kommt nur die einzig und allein wichtige und hoffnungslose Frage auf: Wieso?
Ich habe gelernt damit zu leben und mich so zu mögen wie ich bin. Ein verkrüppeltes Etwas, was in nichts anderes als ewiger und schmerzenden Einsamkeit feststeckt.
Meine Eltern sagen mir immer, dass ich keine Schuld trage...dass es einfach Schicksal sei und ich damit leben müsse. Aber die Wahrheit sieht anders aus. Ich trage Schuld und das ist das schlimmste an allem. Diese beschissene Gewissheit, dass ich es hätte ändern können. Dass ich besser aufpassen und nicht in Selbstmitleid versinken hätte können. Es macht mich regelrecht krank.
Ich würde es am liebsten einfach rückgängig machen. Mein dummes, egoistisches und unaufmerksames zehnjähriges-Ich nicht das gemacht haben, was mich für den Rest meines Lebens dafür büßen lässt.
Dieser eine Moment...diese eine Sekunde, in der mein Leben komplett zerstört wurde...Deine Ravely<3
Seufzend klappte ich mein Tagebuch zu und verstaute es wieder in meinem Nachtkästchen. Völlig erschöpft ließ ich mich mit meinem Rücken auf meine Bettdecke fallen und starrte Löcher in die Luft. Es verließen immer wieder kleine Schluchzer meine Kehle und meine Wangen waren komplett nass.
Es war immer das gleiche. Ich schrieb einen Eintrag und ich weinte mir alles heraus, was sich über die vergangene Zeit angestaut hatte. All die Schmerzen und die Verzweiflung, die mich einfach nicht in Ruhe lassen wollten. Einerseits fühlte ich mich noch kraftloser als vorher, aber das kam auch oft vom weinen.
Andererseits half es mir. Es war wie eine Therapie für mich. Auf diese Weise konnte ich besser mit meinem Schmerz umgehen. Meinem seelischen Schmerz. Ich traute mich nie mich jemandem anzuvertrauen und ihm alles, was mich bedrückte, zu erzählen. Also musste wohl ein einfaches Buch herhalten. Doch für mich war es nicht irgendein Buch, sondern etwas besonderes. Dort standen meine Gefühle drinnen. Meine Geschichte. Niemand konnte an dieser teilhaben, geschweige denn verändern. Und das war gut so. Es war ja schließlich meine Geschichte und ich war der Autor. Wie sie verläuft konnte ich teilweise selbst bestimmen, doch manchmal verlor ich auch komplett die Kontrolle.
Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken und ich richtete mich erschrocken auf. Suchend blickte ich mich in meinem Zimmer um, bis ich mein Handy auf meinem Kissen fand.
Brooke.
»Hey, was gibt's?« fragte ich sie.
»Hey, wo warst du die letzten Stunden? Ich hab extra immer so getan als hätte ich gewusst, dass du dich nicht gut gefühlt hast und nach Hause gegangen bist. Sonst hättest du sonst was als Strafe fürs Schwänzen bekommen! Und du hast noch nie geschwänzt! Also wo zur Hölle warst du?« beendete sie schwer atmend ihren Redeschwall.
Ich war hin und her gerissen, ob ich ihr einfach sagen sollte, dass ich mit Keylam den Vormittag verbracht hatte. Es war ja schließlich nichts schlimmes dran. Ein ganz normaler Nachmittag, nur halt nicht alleine. Doch da gab es auch noch die Tatsache, dass Brooke von ihm schwärmt, als wäre er Gott. Ich konnte es so schlecht einschätzen wie sie darauf reagieren würde, ob sie neidisch sein würde oder ihr es komplett egal wäre, also ließ ich es bleiben und sagte stattdessen, dass es mir wirklich schlecht gegangen wäre.
»Und wieso sagst du mir nicht Bescheid? Es hätte sonst was sein können!« fragte mich Brooke aufgebracht.
»Aber es ist nichts passiert! Du warst gerade nirgendswo, also bin ich einfach gegangen.« »Sei nicht immer so leichtsinnig! Was hättest du gemacht wenn nochmal etwas passiert wäre?! Verdammt Ravely ich hatte echt Angst um dich!« hielt sie mir weiter eine Predigt.
»Aber es ist nichts passiert und das wird es auch nicht nochmal, verstanden? Außerdem bin ich wohl schon groß genug auf mich selber aufzupassen. Du kannst doch nicht bis zum Ende meines Lebens nur, weil ich mal paar Minuten oder so weg bin, gleich eine Panikattacke und nen Herzinfarkt gleich noch dazu bekommen. Du bist ja schlimmer als meine Mum und das heißt was!« sagte ich nun etwas energischer.
»Rave, ich mach mir doch nur Sorgen um dich. Es tut mir leid wenn ich manchmal etwas übertreibe...aber ich kann es nicht ertragen dich nocheinmal so zu sehen. Es war eines der schlimmsten Sachen, die ich je gesehen habe und dazu ist es dir, meiner besten Freundin, passiert! Ich war zwar dabei, aber natürlich kann ich nicht im geringsten nachvollziehen wie es dir dabei ging und bis heute noch geht« ihre sanfte und traurige Stimme berührte mich. Es tat weh sie soetwas sagen zu hören. Doch sie hatte Recht und ich musste mich auch in sie hineinversetzen.
»Ich weiß und dafür danke ich dir auch, dass ich dir nicht egal bin und du immer zu mir hälst! Ich muss mich hier entschuldigen und nicht du...ich hab einfach nicht nachgedacht.« »Ok Entschuldigung angenommen. Und was machst du heute noch so?« fragte sie wieder mit einem fröhlichen Ton und erzählte mir was heute die letzten Stunden, in denen ich gefehlt hatte, alles passiert war.
Nach einer Stunde hatten wir unser Gespräch beendet und es ging mir schon viel besser als vorher. Es gab jeden Tag, wirklich jeden einzelnen Tag einen Moment, in dem ich mir genau eine Frage stellte, die mir aber immer wieder aufs neue nie beantwortet werden konnte: Wieso?
Dieses Wort zog meine Laune in den Keller, doch meistens schaffte ich es wieder aus dem tiefen Loch herauszukommen. Aber manchmal eben nicht und dann kam mein Tagebuch ins Spiel. Ich bevorzugte eher es Schmerzensbuch zu nennen. Denn es stand wirklich nichts positives darin. Das wollte ich ändern, doch ich schaffte es nie. Sobald ich den Stift in meine Hand nahm, fielen mir nur schlechte Sachen ein, die ich niederschreiben könnte. Es war ein verdammter Teufelskreis.Nach einer halben Stunde unproduktives Umherstarren, beschloss ich mir etwas kleines zum Essen zu machen. Da mein Dad wie jeden Tag von früh bis spät Abends arbeiten musste und meine Mum auch noch bis vier Uhr in der Arbeit sein wird, musste ich mich meistens immer selbst versorgen. Doch damit kam ich ganz gut klar, ich war eh eher eine Einzelgängerin und nahm gerne alles selbst in die Hand. Außerdem arbeiteten sie ja schließlich um uns dreien ein angenehmes Leben geben zu können.
Ich hievte mich mühsam in meinen Rollstuhl und fuhr in die Küche.
Als es feststand, dass ich wahrscheinlich nie wieder laufen können würde, haben ich und meine Eltern Zimmer getauscht. Nun war meines im Erdgeschoss und das meiner Eltern im ersten Stock. Somit konnte ich überall ohne Probleme hinfahren.In der Küche angekommen, sah ich ersteinmal in den Kühlschrank. Er war zwar nicht gerade der vollste, aber die wichtigsten Sachen waren drinnen. Als ich jedoch nichts fand auf das ich Hunger hatte, wollte ich mir einfach Nudeln mit irgendeiner Soße kochen. Doch wie sollte es anders sein, die Verpackung der Nudeln war natürlich im obersten Küchenschrank. Dies hielt mich nicht davon ab irgendwie zu versuchen daranzukommen. Mit all meiner Kraft stützte ich mich mit meinen Händen an den Armlehnen meines Rollstuhls ab. Halb in der Luft hängend, behielt ich den rechten Arm abgestützt auf der Lehne und legte meinen linken Unterarm auf dem Küchentresen ab. Ich versuchte mich mit noch mehr Kraft herauszuheben, doch aufeinmal begann durch die ganze Anspannung mein rechter Arm zu zittern. Ich ignorierte es aber und holte noch die letzte Energie aus meinen Muskeln, um meinen Körper so hochzuheben, damit ich mich auf die Küchenablage setzen konnte. Plötzlich rutschte mein Rollstuhl weg und ich verlor meinen Halt. Sofort hielt ich meinen Atem an und riss meine Augen auf. Schnell griff ich nach dem besten was ich gerade sehen konnte, doch das
brachte nichts. Ich fiel mit dem Kopf voraus von der Ablage mit voller Wucht erst gegen eine Kante und dann auf den Boden. Ein stechender Schmerz durchzog meinen Kopf. Aus Reflex tastete ich erst an meine Stirn, die einen tiefen Schnitt hatte. Meine Sicht war nur noch verschwommen und wurde immer unklarer. Unter meinem Kopf wurde es nass. Das war noch das einzige was ich mitbekam, danach wurde alles schwarz.
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Bis zum letzten Atemzug
Teen FictionDa Ravely als kleines zehnjähriges Mädchen einen großen Fehler begangen hatte, dachte sie ihr Leben wäre vorbei. Sie sah nirgendswo mehr einen Sinn und verabscheute auch jegliche Hilfe. Dass genau diese "Eigenschaft" sie acht Jahre später zu Zac Win...