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In den Frühlingsferien kehrte ich nicht in die USA zurück. Meine Mutter machte mir einen Strich durch die Rechnung und bestand darauf, dass ich für meine Abschlussprüfungen lernte und meine Bewerbung an die Business School London schrieb. Natürlich fügte ich mich.
Es war eigenartig, aber die Zeit veränderte einen. Sie konnte einem das Schönste schenken, was man je erlebte, während sie dahinflog, dass einem einem die Stunde wie eine Minute erschien. Auf der anderen Seite konnte sie aber auch zäh wie Kaugumi sein und geliebte Erinnerungen verblassen lassen.
Ich durchlebte diesen Prozess in seiner ganzen Härte. Die ersten Wochen, die ich wieder in England verbrachte, waren schlimmer als jemals zuvor. Die üblichen Sticheleien wegen meiner Aussprache, die bei Dad stets amerikanischer wurde, ertrug ich gelassen. Das kannte ich bereits. Doch die Bemerkungen über meinen Vater, der als Manager einer Boyband nicht den elitären Ansprüchen mancher Mitschüler entsprach hielt ich kaum aus.
Dazu kam, dass mir meine Freundinnen mit ihrer unstillbaren Gier nach intimen Details auf die Nerven gingen. Sie überschütteten mich mit Fragen nach Harry und den anderen Bandmitgliedern. Wollten wissen, ob Sänger immer Drogen nahmen oder Alkoholiker waren. Egal, was ich ihnen erzählte, es brachte die Vermutungen nicht zum Schweigen. Sie verstanden nicht, welche Faszination die Musik für mich hatte und wie wohl und geborgen ich mich bei meinem Dad und der Band gefühlt hatte.
Bald versteckte ich mich nur noch hinter meinen Kopfhörern und übertönte meine Sorgen mit Heavy Metal Musik. Aber meine miese Stimmung blieb trotzdem.
Am wenigsten Halt fand ich bei meiner Mutter. Sie mäkelte ständig an mir herum. Entweder ging es um meinen Kleidungsstil oder um meine Wortkargheit bezüglich meiner Zeit bei Dad. Aber auch mein Wunsch, im April erneut nach Florida zu fliegen, stieß auf Widerstand. Ich konnte ihr nichts recht machen und verbrachte meine Wochenenden deswegen meistend im Internat und nicht bei ihr in London.
An diesen Tagen verlor ich mich dann in Tagträumen über Harry. Ich glaubte seine Stimme zu hören und litt unter Schlafentzug, weil ich mir Nächte lang die Songs von One Direction anhörte. Es waren Studioaufnahmen, aber das machte mir die Musik umso persönlicher.
Wenn es meine Zeit zuließ, telefonierte ich mit Dad. Seine Berichte über One Direction trösteten mich. Dabei erwähnte er Harry mit keinem Wort, aber ich war auch zu feige ihn nach ihm zu fragen. Stattdessen lauschte ich den Erzählungen über die ersten Erfolge der Band, das Erscheinen ihrer Albums und die Verhandlungn mit One Republic, welche One Direction als Vorband für ihre USA- und Eurpatour engagieren wollten. Es freute mich, das zu hören, auc wenn es mir schmerzhaft bewusst machte was ich alles versäumte.
Ich nahm mir mehrmals vor, Dad nach Harrys Nummer zu fragen, aber je länger ich wartete, desto unsicherer wurde ich. Immer öfter fragte ich mich, ob Harry das gleiche für mich empfand, wie ich für ihn. Hatte er vielleicht gar kein Interesse daran, mit mir in Kontakt zu bleiben?
Ich suchte das Internet nach ihm ab, aber er schien nirgends registriert zu sein oder versteckte sich ziemlich gut. Meine Zweifel übermannten mich allmählich. Das war der Moment, in dem ich mich von meiner Zeit in den USA verabschiedete und mich damit abfand, in England zu Leben. Ich war wie eine Muschel die ihre Schale zuklappte und das Licht aussperrte.
Als ich am zweiten Weihnachtstag zu Dad und Granny nach München flog, war ich bereits durch und durch Englisch. Wir verbrachten eine schöne Woche miteinander, machten lange Winterspaziergänge im Englischen Garten, saßen in Cafes und Restaurants und redeten über Gott und die Welt. Außer über Harry. Ich wollte nicht, das meine sorfältig aufgebaute Mauer zerbrochen wurde.
''England bekommt dir nicht.'', stellte Granny eines Tages fest und musterte mich, während ich an einer heißen Schokolade nippte. ''Sieh dich an, du bist ganz melanchonisch. Was ist los?''
''Gar nichts.'' Ich wich ihrem Blick aus.
''Du lachst nicht mehr. Was ist passiert?''
''Ich habe einfach viel zu tun, Granny. Die Vorbereitungen für meinen Abschluss, die Prüfungen. Mir geht einiges durch den Kopf.''
''Warum um alles in der Welt willst du in London studieren? Du könntest auch hier bei mir wohnen. Vielleicht täte dir das gut.''
''Mutter!'' Es war amüsant, wenn Dad so förmlich mit meiner Großmutter sprach und ich wusste, er wollte keine weiteren Diskussionen.
''Mom würde das bestimmt nicht gut heißen.'', beantwortete ich Grannys Frage wahrheitsgemäß.
''Du bist bald achtzehn. Als ich achtzehn war, war ich schon lange auf mich alleine gestellt. Wo soll dein Leben hingehen, Amelia? Was willst du werden?''
Ich wollte ihr die selbe Antwort geben wie Harry einst, aber ich scheute mich davor. Für meine Mutter lag es auf der Hand, dass ich auf die Business School gehen würde, um meinen MBA zu machen. Nur so, glaubte sie, würde ich später einen angemessenen Job finden. Mein Blick wanderte zu Dad.
''Ich würde gerne einmal einen Job haben, der mit Popmusik zu tun hat'', wagte ich einen Vorstoß.
''Sag sowas nicht, Am!'' Er hob die Hände. ''Deine Mutter bringt uns beide um.''
''Was für ein Unsinn!'' Granny schüttelte empört den Kopf. ''Dein ganzes Leben liegt vor dir, Amelia. Die Weichen, die du jetzt stellst, werden deinen Weg bestimmen. Lass dich nicht von anderen steuern.''
''Hör auf damit, Mutter'', wollte Dad abwiegeln, aber Granny schlug ihm widerwillig auf den Arm. ''Seit eurer Scheidung kümmert sich keiner mehr um dieses Kind'', rief sie aufgebracht. '' Du bist zu gutmütig, Anne ist zu streng und am Ende denkt jeder nur an sich selbst, während Amelia zwischen den Fronten kämpfen muss.'', sie sah mich an und ihr Blick wurde augenblicklich weicher. ''Finde heraus, was dir wichtig ist. Wenn es Popmusik ist, dann ist das eben so.'', sagte sie nachdenklich. ''Und kümmerre dich nicht um deine Eltern, sie leben nicht dein Leben.''
Ich musste grinsen, als ich Dad mit den Augen rollen sah. Meine Großmutter war ein wunderbarer Mensch und ich liebte sie von ganzem Herzen, aber manchmal machte sie mich mit ihren Bemerkungen ziemlich nervös.
Sie verlangte, dass ich über mich nachdachte,. Keine leichte Aufgabe, wenn man, wie ich, dazu erzogen worden war, das zu tun, was andere von einem verlangten oder für richtig hielten.Außerdem war ich mir noch unsicher, welchen Weg ich in meinem Leben gehen wollte.
Manchmal kam ich mir wie ein Boot vor, dem der Kompass abhanden gekommen war. Ich wurde von den Wellen in eine Richtung gehoben, die ihnen gefiel. Was machte es für einen Sinn, wenn ich plötzlich ein Ruder fand, obwohl ich gar nicht wusste, wo das rettende Ufer war?
Ich seufzte und erwiderte: ''Mir geht's gut, Granny. Wirklich!'' Doch bevor sie mir entgegensetzen konnte,, winkte Dad der Bedienung.
''Ich denke, wir sollten jetzt gehen'', sagte er bestimmt und ich sah ihn mit einem erleichterterten Blick an.
Den Rest meines Besuches in München schnitt Granny das Thema nicht mehr an und ich war froh darüber. Es war einfacherer für mich, nicht ständig alles infrage zu stellen.
Einen Tag vor Silvester flog ich wieder zurück nach London und entdeckte in einem Musikgeschäft am Flughafen die CD von One Direction. Dad behauptete vergessen zu haben, mir ein Exemplar mit zu bringen und als ich mir das Cover ansah, vermutete ich, dass es Absicht gewesen war.
Die Jungs posierten auf Sofa im alten Hafengebäude. Versonnen betrachtete ich Harry und konnte kaum glauben, das ich ihm je begegnet war. Er wirkte wie ein Fremder, gefangen in einem starren Bild. Ich horchte in mich hinein, fragte mich, ob ich etwas fühlte, aber alles verschwamm mit der Gegenwart, in ich mich mit meiner Mauer vor ungewollten Gefühlen beschützte. Ich stellte die CD zurück in das Regal, als ich beschloss sie nicht zu kaufen. Nur so würde es mir gelingen, mein Leben in England normal weiterzuführen.
Anfang des Jahres hörte ich von Dad, dass One Direction tatsächlich als Vorband für One Republic auftreten würden. Die Tour sollte Ende März starten. Ich freute mich sehr darüber, verzichtete aber darauf, meine Mutter darum zu bitten, in den Frühlingsferien nach Florida fliegen zu dürfen. Eine weitere Disskusion glaubte ich nicht ertragen zu können.
Geduldig lauschte ich Dads Ausführungen über die Euphorie der Jungs, ihre erfolgreichen Gigs und der Berg an Arbeit, der noch vor ihnen lag. Sobald ich auflegte, bemühte ich mich darum, nicht los zu heulen und versuchte mich abzulenken. Ich wollte nicht mehr weinen und mich selbst bemitleiden. Meine Kraft war aufgebraucht.

Timeless | H.SWo Geschichten leben. Entdecke jetzt