Kapitel 9

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Douglas

Es ist zwei Tage vor der Fahrprüfung meines Bruders und wir essen bei meiner Oma zu Abend. Es gibt Dosenravioli. Löffel für Löffel quäle ich mir die Nudeln hinunter, während Grandma alles über unsere Woche wissen will. „Und, was hast du so gemacht, TJ?" Mein Bruder läuft rot an. „Ich... war am Strand mit einem... Kumpel." Kumpel, jaja. Ich muss mir eine Anmerkung verkneifen. „Ich wusste gar nicht, dass du Freunde hast", sagt meine Oma nur überrascht. „Danke, Grandma. Auch ich lande manchmal einen lucky punch", murmelt mein Bruder und stochert mit seiner Gabel in den Ravioli herum. „So so, sogar ein lucky punch, dein Kumpel", bemerkt meine Großmutter. TJ wird immer röter und ich beginne, mit ihm mitzufühlen. „Ich hätte immer schwören können, dass Douglas der schwule Zwilling ist." Mein Bruder erstickt fast an seiner Nudel. Hustend wirft er mir einen bösen Blick zu, doch ich schüttle nur den Kopf, um zu signalisieren, dass ich niemandem davon erzählt habe. „Ist es so offensichtlich?", fragt TJ besorgt, nachdem er sich wieder beruhigt hat. Grandma sieht mich an und strahlt. „Das war ein 'Ich bin der schwule Zwilling', oder?" Ich lächle stumm. Mein Bruder sieht noch immer so aus, als würde er am Liebsten gleich im Boden versinken. „Kein Wort zu Mom, ok?", fleht er meine Oma an. „Ist doch selbstverständlich. Ach, und was haltet ihr eigentlich von der Idee, dass ich mir einen Papagei kaufe?", wechselt diese das Thema. „Einen Papagei? Was willst du denn bitte mit einem Papagei?", frage ich und beginne, mir Sorgen zu machen. Dass meine Oma sich oft von der Durchschnittsgrandma unterscheidet, ist mir klar, aber das übertrifft einiges bisher Dagewesenes. „Wieso willst du nicht eine Katze, wie jede andere einsame Frau in deinem Alter?", stichelt TJ. „Pass auf, was du sagst!", droht meine Oma. „Außerdem gibt es viele, die einen Papagei haben, ich bitte euch! Ich habe mir sogar schon Namen überlegt." Sie springt auf und wühlt in ihren Schubladen nach einem kleinen Zettel. Mein Bruder und ich werfen uns ängstliche Blicke zu. Sie meint es tatsächlich ernst. „Was haltet ihr von 'Scheißvieh'?" Ich seufze. „Grandma, willst du nicht einmal wenigstens so tun, als wärst du normal?" Meine Großmutter sieht mich gekränkt an. „Was soll das heißen? Das war eben mein erster Einfall." - „Wie wäre es denn mit Raoul Duke oder Dr. Gonzo?", schlägt TJ vor, der eine DVD in der Hand hält. Es ist Grandmas Lieblingsfilm, Fear And Loathing In Las Vegas. „Das ist eine geniale Idee!", ruft meine Großmutter begeistert. „Dann kann ich direkt zwei kaufen!" Ich werfe meinem Bruder einen verzweifelten Blick zu, doch der hebt nur die Schultern. Vielleicht werden die Vögel ihr gut tun. Es sei denn, sie vergisst sie nicht, wie sie damals ihren Hamster Mr. Armstrong vergessen hat. Oder als ihr Hase El Guapo entlaufen ist, weil sie während einem Besuch bei ihrer Nachbarin dir Tür offen stehen hat lassen. Aber Papageien machen meinen Informationen zufolge auch Geräusche, und es ist schwer, etwas zu vergessen, wenn es einen den ganzen Tag ankreischt. Ich hoffe es – für Dr. Gonzo und Raoul Duke.

TJ

Es ist Freitag, der 28. Oktober, und ich bin höllisch aufgeregt. In weniger als einer halben Stunde ist meine Fahrprüfung, von der nicht nur mein, sondern vor allem auch Dougs Geburtstagsgeschenk abhängt. Eigentlich habe ich keinen Grund, nervös zu sein, weil ich eigentlich kein schlechter Autofahrer bin. Aber naja, ich konnte auch oft den Stoff für Tests im Schlaf und am Ende stand trotzdem ein E oder F auf der Arbeit. Meine ständige Angst zu versagen macht es mir fast unmöglich, gut in irgendeiner Prüfung abzuschneiden. Da kann es so gut laufen, wie es will, irgendwann kommt trotzdem die Stimme in meinem Kopf, die flüstert: Du bist ein Versager, Thomas James Hammond. Aber das versteht niemand. Entweder habe ich eben zu schlecht gelernt oder ich habe Prüfungsangst. Dass es mehr eine Prüfungspanik ist, habe ich noch keinem erzählt. Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass es keinen Unterschied mehr macht, ob ich lerne oder nicht; es springt jedes Mal bestenfalls ein D heraus. Und meine Eltern glauben wieder, ich wäre faul. Es ist ein Teufelskreis. Es ist eben viel passiert in den letzten Jahren, und das sollten Mom und Dad eigentlich auch wissen. Doch jetzt, wo „alles wieder gut ist", zählt wieder nur die Schule. Und eben jetzt die Fahrprüfung. Mein Atem geht augenblicklich schneller, als ich ein Auto vor dem Haus parken höre. Ein letztes Mal schaue ich auf mein Handy. Eine Nachricht von Sean. Hey Babyboy, ich glaub an dich. Du schaffst das! <3 Ich grinse. Was würde ich nur ohne diesen Typen tun? Aber die kurze Freude bleibt nicht lange. So sehr ich mich auch aufs Fahren konzentriere, die Stimme in meinem Kopf lässt nicht locker. Wenn du das verhaust, hast du Douglas Geschenk zerstört. Handbremse lösen. Kupplung drücken. Gas geben. Du schaffst es nicht. Blinken. Schulterblick. Abbiegen. Versager. Für nur eine Sekunde achte ich nicht auf die Straße. Eine verdammte Sekunde zu lange. Um ein Haar hätte ich einen LKW gerammt, wenn Larry nicht im letzten Moment nach dem Lenkrad gegriffen und unser Auto zur Seite gelenkt hätte. „Dreh bitte um und fahr zurück", sagt einer der Prüfer. Und das ist er, der endgültige Auslöser. Sofort fange ich an zu zittern und meine Sicht verschwimmt durch meine Tränen. Es ist ein Wunder, dass ich es ohne einen Unfall zu bauen bis nach Hause schaffe. „Dein Ergebnis wirst du dir wohl denken können", bemerkt Prüfer 2 schnippisch. Larry hält mich auf. „Was war denn heute los? Normalerweise bist du doch auch nicht so unsicher." Ich kann nicht antworten, also zucke ich nur mit den Schultern. Zum Glück begegne ich im Haus weder Douglas noch Mom. Ich bin einfach nicht in der Lage, ihnen jetzt mein Ergebnis zu beichten. Weil ich aber nicht alleine sein will, da ich weiß, dass das nicht gut ausgehen würde, rufe ich Sean an. „Und, wie wars?", fragt er direkt. Ich kann noch immer keinen Ton von mir geben, doch mein kurzes Schniefen reicht ihm als Antwort. „Oh, Shit. Gib mir 10 Minuten." Dann legt er auf und ich lenke mich mit Musikhören ab, bis er da ist. Sean sieht aus, als käme er direkt von der Arbeit, denn er trägt noch ein T-Shirt mit der Werbung eines Supermarktes. Die ersten Minuten sagt er einfach gar nichts, er wartet nur darauf, dass ich mich beruhige und wieder reden kann. „Willst du mir jetzt erzählen, was passiert ist?", fragt Sean mich nach einiger Zeit, während er beruhigend durch meine Haare fährt. Ich zögere. „Weißt du, es ist einfach so... ich habe unglaublich große Angst zu versagen, bei jedem Test, eigentlich nicht nur da, sondern sogar, wenn ich einfach mit Fremden rede. Und deshalb werde ich immer total panisch, wie heute. Ich wäre fast voll in einen LKW gerast, wenn Larry nicht ausgewichen wäre. Bisher habe ich niemandem davon erzählt, und ich weiß auch nicht, woran es liegt." Sean antwortet nicht. „Wo sind dein Bruder und deine Mutter?", will er dann wissen. „Mom arbeitet, sie kommt vielleicht gegen elf nach Hause. Und Douglas ist bei Elliot oder so, er hat auf den Anrufbeantworter gesprochen." - „Ich bleibe bei dir", bietet Sean direkt an. „Nein, das musst du nicht", widerspreche ich sofort. „Ich komm schon klar." Er nimmt meine Hände. „TJ Hammond, wir wissen beide, dass das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Ich bleibe die Nacht bei dir, und das ist kein Vorschlag, sondern ein Befehl. Hast du das verstanden?" Ich hebe müde meine Hand zum Kopf und salutiere. „Aye aye, Captain!" - „Du... du hast nicht zufällig ein anderes T-Shirt für mich?", fragt er und deutet auf das Logo des Supermarkts. „Nein, sorry. Ganz zufällig sind alle meine Oberteile plötzlich verschwunden", gähne ich. „Schade", findet Sean und zieht sein T-Shirt aus. „Ach, ich finde das nicht ganz so schade", murmle ich und gebe ihm einen Kuss. Dann stehe ich auf. „Wo willst du denn hin, Babyboy?", wundert sich Sean und sieht mich mit seinem Hundeblick an. „Meine Hose ausziehen. Also, ich meine, es ist ziemlich unbequem in Jeans zu schlafen." Ich werde knallrot und Sean lacht. Schnell befreie ich mich aus meiner Hose und lege mich zurück ins Bett. Irgendwann schlafe ich in seinen Armen ein.

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