Kapitel 11 (lemon)

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TJ

Ich weiß direkt, dass etwas nicht stimmt, als ich am Montag in der zweiten Woche nach unserer Party nach Hause komme. Mom ist nirgends zu finden, geht nicht ans Handy, und auch Grandma hört ihr Telefon wahrscheinlich nicht. So verbringen Doug und ich den Abend damit, nervös auf und ab zu gehen und zu hoffen, dass nichts schlimmes passiert ist. Doch dann öffnet sich die Tür, und Mom kommt herein. Sie ist vollkommen fertig, ihre Augen sind rot, weil sie vermutlich geweint hat, und sie trägt noch immer ihre Arbeitskleidung, obwohl sie eigentlich schon seit fast sechs Stunden Feierabend hatte. „Mom! Was ist passiert?", fragt Douglas sofort und nimmt ihr die Handtasche ab. „Margaret... Grandma... Sie liegt im Krankenhaus", stammelt Mom. „Sie ist im Treppenhaus gestürzt, und jetzt..." Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag in den Magen. So wie sie es sagt, hat Grandma sich nicht nur ein Bein gebrochen oder ist zur Kontrolle dort. „Ich muss sofort dahin!", rufe ich deshalb und beginne, meine Schuhe anzuziehen. „Was? Nein. Vergiss es, Thomas." Verwundert schaue ich Mom an. Ich verstehe nicht, warum ich Grandma nicht besuchen kann. „Warum denn nicht? Was wenn... was wenn sie stirbt?", versuche ich mich recht zu fertigen. Mom schüttelt energisch den Kopf. „Sie stirbt nicht! Und du kannst sie gerne morgen nach der Schule besuchen." - „Morgen nach der Schule?" Wütend werfe ich meinen Schuh in die Ecke zurück. „Das dauert noch viel zu lange! Es ist ernst! Was, wenn es dann schon zu spät ist?" - „Hey hey hey", unterbricht Doug unseren Streit. „Mom hat Recht, Grandma wird nicht sterben. Also mach dir keinen Stress, TJ." Keinen Stress machen. Ach, wenn das so einfach wäre, wären einige Dinge in meinem Leben so nicht passiert. Ich werfe noch einen bösen Blick in die Runde, dann renne ich so laut wie möglich nach oben. Als ich aber höre, wie jetzt Doug und Mom zu streiten beginnen, mache ich auf der Treppe Halt und lausche. „Was? Du musst ihn  morgen zu Grandma lassen, sonst... keine Ahnung." Mom klingt im Gegensatz zu meinem Bruder eher genervt. „Douglas, die Ärzte haben ihr vielleicht drei Tage gegeben. Wenn sie stirbt, während er da ist, wird er sich Vorwürfe ohne Ende machen." Oh, ich werde mir so oder so Vorwürfe ohne Ende machen. Aber es reicht mir, ich habe genug gehört. Leise verschwinde ich in mein Zimmer und setze die Kopfhörer auf, um mich abzulenken. Sean schreibt mir, doch ich ignoriere seine Nachrichten. Soll er sich doch Sorgen machen. Ich habe halt grade keinen Bock auf garnichts. Immerhin hat Mom eingesehen, dass ich Grandma besuchen darf, und bevor sie sich umentscheidet, laufe ich direkt nach der Schule zum Krankenhaus. Grandma liegt ganz ruhig in ihrem Bett. Wären da keine tausend Maschinen und piepsende Geräte, könnte man meinen, sie würde nur kurz ein Nickerchen machen. Ich setze mich zu ihr ans Bett. Obwohl ich vermute, dass sie mich eh nicht hört, rede ich mit ihr. „Hi, Grandma. Ich bin es, TJ. Dein Lieblingsenkel. Mom hat gestern gesagt, sie geben dir nur drei Tage. Bullshit. Als ob du nur drei Tage durchhalten würdest. Du kommst bestimmt wieder auf die Beine, und dann stelle ich dir meinen Freund Sean vor. Wir sitzen dann bei dir zuhause, essen Kuchen, den du nicht gebacken hast, obwohl du es behauptest, während Raoul und Dr. Gonzo um unsere Köpfe herumfliegen und „Arschloch, Arschloch" schreien. Ich wette, das war das erste, was du ihnen beigebracht hast, damit sie den Postboten oder die Nachbarn beleidigen können. Wenn du willst, kann ich auf die Scheißviecher aufpassen, solange du hier bist." Ich schweige. Auch, wenn ich nicht davon ausgegangen bin, dass sie mich bemerkt, habe ich es zumindest gehofft. Enttäuscht will ich aufstehen, als Grandma sich plötzlich bewegt. Kurz öffnen sich ihre Augen, sie nimmt meine Hand. „TJ", flüstert sie. Dann geht alles ganz schnell. Der Herzschlag, der an einem kleinen Monitor angezeigt wird, wird langsamer. Ein Arzt stürmt herein, schubst mich beiseite. Bevor ich begreifen kann, was in dieser Situation geschieht, ist es vorbei. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Sie ist tot. Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, wie ich zitternd irgendwo im Flur sitze und auf Sean warte. Ich will jetzt nicht nach Hause. Ich will jetzt nicht Mom und Douglas von Grandmas letzten Minuten erzählen müssen. Ich will jetzt nicht von allen bemitleidet werden, denn noch spüre ich einfach nichts. Erst in Seans Zimmer überrollt mich die ganze Gefühlsscheiße wie ein Tsunami. Was, wenn sie jetzt wegen mir gestorben ist? Vor Überraschung? Vor Schreck? Mom hatte Recht, ich hätte nie ins Krankenhaus gehen dürfen. Vielleicht wäre Grandma dann noch am Leben. Sean sagt die ganze Zeit über nichts, sitzt nur da und streicht mir beruhigend über den Rücken. Nachdem ich jetzt auch noch Grandma verloren habe, ist er der Einzige, der mich irgendwie überzeugt, weiterzumachen. Wenn er auch noch... Meine Gedanken kreisen wild in meinem Kopf herum. Sobald ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe, erscheint eine neue Erinnerung an Grandma oder an die Dinge von vor einem Jahr und es wird wieder schlimmer. Es ist einer dieser Teufelskreise, aus denen ich damals nie alleine rausgekommen bin. Doch jetzt ist es Sean, der über meinen Arm streicht, und nicht die Rasierklingen. Und das beunruhigt mich. Wir sind gerade mal einen Monat zusammen und schon bin ich derartig abhängig von ihm. Ich sehe es schon kommen, es wird so enden wie immer. Aus irgendeinem Grund wird er mal nicht da sein können, und dann ist es zu spät. „Hey", unterbricht Sean meine Gedanken. Ich sehe ihn durch meine tränenverschleierten Augen kaum, aber er sieht ziemlich fertig aus. „Oh, sorry. Ich sollte wirklich aufhören zu heulen." Schnell wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. „Nein. Womit du aufhören solltest, ist das da." Er fährt mit seinem Daumen über eine Narbe an meinem Unterarm. „Hab ich doch", murmle ich. „Schon seit einem dreiviertel Jahr." Und dann, aus dem Nichts, fängt Sean an zu weinen. Ich bin vollkommen überfordert. Bisher hatte er nie einen Moment, in dem er Schwäche gezeigt hat. Es liegt an mir. Ich bin eine zu große Belastung für ihn. „Sean... es tut mir leid. Immer, wenn ich bei dir bin, bin ich irgendwie down. Ich sollte damit aufhören." Er schüttelt den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles." Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Das musst du nicht. Siehst du, wenn ich mir etwas antun wollen würde, hätte ich das auch in der Zeit tun können, als wir uns noch nicht kannten. Glaub mir, auch wenn es auf dich vielleicht nicht so wirkt, aber bevor ich dich kannte, beziehungsweise bevor ich dich mochte, war ich noch nie so glücklich wie danach. Es geht bergauf, das merke ich." Ich bin ganz überrascht von dem, was ich mich sagen höre. So eine positive Einstellung hatte ich schon lange nicht mehr. Und das, obwohl vor wenigen Stunden Grandma gestorben ist. Der Gedanke an sie treibt mir wieder Tränen in die Augen, doch ich halte stand. Wenn Sean da ist, kriege ich das hin. Wenn er es nicht ist, versage ich, was sich am Freitag bei Grandmas Beerdigung herausstellt. Auf den Wunsch meiner Mutter hin spiele ich in der Kirche Klavier. Ich habe Sean verboten zu kommen, um unsere Beziehung vor meinen Eltern geheimzuhalten. Für die ist er nämlich noch immer nur ein Kumpel. Zuerst geht alles gut, ich schaffe das erste Lied ohne Fehler. Aber beim zweiten Lied werde ich nervös. Ich darf es nicht versauen, nicht auf ihrer Beerdigung. Denk daran, wie stolz sie wäre, wenn du das hier fehlerfrei schaffst, versuche ich mich zu motivieren, was jedoch nach hinten losgeht. Mein Herz schlägt höher, denn ich weiß jetzt genau, dass mir alle zuhören. Der erste falsche Ton schleicht sich ein, noch kann ich weiterspielen. Stur starre ich auf die Tasten. Ganz einfach. Note für Note. Dann beginnt der Pfarrer zu sprechen. „Margaret Barrish war eine überall beliebte Mutter, Großmutter und Freundin. Sie schaffte es, mit ihrem Lachen andere Menschen anzustecken. Sie hatte für jeden ein offenes Ohr. Am 15. November ist sie friedlich im Beisein ihres Enkels entschlafen, so, wie sie es sich sicher gewünscht hätte." Meine Hände beginnen zu zittern. Ich bemühe mich, weiterzumachen. „Wir haben uns heute hier versammelt, um uns von Margaret zu verabschieden." Ich spüre, wie mein Hemd nass von Schweiß wird. Tränen steigen in meine Augen, ich komme aus dem Takt. Ruckartig spüre ich etliche empörte Blicke auf meinem Rücken. Herzlichen Glückwunsch, du hast es versaut, schießt es mir durch den Kopf, und das ist zu viel. Ich stehe auf und renne aus der Kirche. 

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