Kapitel 4

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TJ

Die nächsten Tage passiert nicht viel. Das Wochenende verbringe ich bei Dad, am Montag bleibe ich von der Schule zuhause. Am Dienstag zwingt mich Mom, hinzugehen. Ich bleibe die meiste Zeit über ruhig und versuche, nicht aufzufallen. Trotzdem spricht mich in der Lunchtime jemand an. Es ist Elliot. „Hi, TJ. Geht's dir wieder besser?" Ich rutsche widerwillig ein Stück zur Seite, dass er sich zu mir setzen kann. „Ja. Was gibt's?" Er holt einen Zettel aus seiner Tasche. „Ich soll dir das von Mr. Hunt geben. Du hast kein zweites Wahlfach angegeben, also wurdest du zum Musikensemble eingeteilt. Die suchen noch einen Pianisten." - „Aber... ich kann doch gar nicht Klavier spielen." Elliot zieht die Augenbrauen hoch. „Dein Bruder meinte, du hättest ungefähr 8 Jahre lang gespielt." Ich beiße mir auf die Lippe. Es hatte schließlich einen Grund, dass ich vor zwei Jahren aufgehört hab. Mom und Dad hatten mich gedrillt wie einen asiatischen Youngster, ich musste üben bis ich meine Finger kaum mehr bewegen konnte. Ich hatte mich gewehrt, geschrien. Warum sie mich so nötigen würden. Die Antwort war gewesen: Sei froh, dass wir dir deinen Unterricht bezahlen. Oder: Niemand hier hat so viel musikalisches Talent wie du. Weißt du, wie stolz du uns machst? „TJ? Bist du noch geistig anwesend?" Elliot schnippst vor meinem Gesicht wie ein Verrückter. „Ähm, ja." - „Okay. Hier, das sind die Zeiten und die Zimmernummer. Hau rein!" Er drückt mir den Zettel in die Hand und verschwindet. Unentschlossen zerknülle ich die Notiz in meiner Hand. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, alte Wunden wieder aufzureißen. Trotzdem erscheine ich am Mittwoch – und das sogar viel zu früh, da die Stunde davor ausgefallen ist. Der kleine Musiksaal ist leer. Ich will eigentlich mein Handy rausholen, um mich so zu beschäftigen, bis der Rest kommt, aber dann fällt mein Blick auf den Flügel, der in der Mitte des Raumes steht. Wie von einer fremden Macht gesteuert setze ich mich auf den Hocker und beginne zu spielen. Es geht wie von selbst. Meine Finger fliegen über die Tasten, treffen fast jeden Ton. Das Lied war immer Grandmas Lieblingssong. Immer wenn ich bei ihr zu Besuch war, musste ich mich zuallererst an ihr altes, verstimmtes Klavier setzen und es vorspielen. „Du bist echt gut", höre ich auf einmal eine Stimme hinter mir. Ich höre auf zu spielen und drehe mich um. In der Tür steht ein Mann mit Glatze. „Mr. Hunt?", versichere ich mich. Er kommt auf mich zu und gibt mir die Hand. „Thomas." Ich könnte ihn verbessern, aber ich nicke nur stumm. Viel zu verwirrt bin ich über das, was das Klavierspielen mit mir macht. Es ist nicht mehr schlimm, so wie früher, sondern anders. Es macht den Kopf frei, was mittlerweile sehr nötig ist. „Die anderen lassen sich aber Zeit", bemerkt Hunt mit einem Blick auf die Uhr. Nicht einmal eine Minute später erscheint der Rest des Ensembles und die Probe beginnt. Es läuft gut, auch wenn ich anfangs Probleme mit dem Notenlesen habe. Die anderen Mitglieder sind alle älter oder jünger als ich, so dass mich niemand von ihnen kennt. Wir spielen gerade irgendein Lied von Bach, als ich durch das Fenster neben der Tür jemanden uns beobachten sehe. Ich kann nicht erkennen, wer es ist, nur, dass dieser jemand blonde Haare hat und relativ groß ist. Erneut zu versuchen, die Person zu identifizieren, würde mich und somit auch den Rest des Ensembles hoffnungslos rausbringen. Also konzentriere ich mich nur aufs Spielen. Nachdem wir das Lied beendet haben, ist die Gestalt verschwunden.

Douglas

Anne geht mir in den Tagen nach unserem missglückten Treffen – verständlicherweise – aus dem Weg. Betty hält zu Anne, doch wenn sie mich dabei erwischt, wie ich zu wiederholtem Male zu ihnen herüberstarre, lächelt sie entschuldigend. Ich weiß, dass ich ihr und allen anderen noch eine Erklärung schuldig bin, doch ich bin im Moment noch nicht bereit. Ich muss erst wissen, dass es ernst ist. Auch, wenn zu den Mädchen mein Kontakt etwas eingestaubt ist, bin ich trotzdem in kaum einem Kurs alleine. Entweder Elliot oder Jesper, ein Junge aus der Theatergruppe, mit dem ich mich sehr gut verstehe, belegt den Platz neben mir. Jesper wohnt sogar nur zehn Gehminuten entfernt, so dass wir uns auch schon nach der Schule getroffen haben – sehr zu dem Bedauern meines Bruders. Er hat immer noch keine Freunde gefunden und ist die meiste Zeit alleine in seinem Zimmer. Allerdings ist er selber schuld. Nach seiner komplett unnötigen Aktion am ersten Schultag war ohnehin niemand besonders scharf darauf, mit ihm befreundet zu sein. Die meisten haben ihm das wohl schon verziehen, denn ich bin mir sicher, dass er problemlos Freunde finden könnte, wenn er wollte. Aber ich sehe es auch nicht ein, dass ich mich darum kümmern soll, dass er Anschluss findet, auch wenn meine Mutter mich darum gebeten hat. Außerdem habe ich ihm schon bestimmt hundert Mal gesagt, dass er sich doch einfach bei Sean entschuldigen soll. Sean nimmt es ihm kein Stück übel, und sie wären bestimmt gute Freunde. Und ich hätte endlich meine Ruhe, um mich zur Abwechslung mal um meine eigenen Probleme zu sorgen. Das alles erzähle ich keinem – nur Ollie. Es wäre mir so viel geholfen, wenn wir uns endlich treffen könnten. Aber Austin ist eben nicht gerade der nächste Weg, und Ollies Eltern wissen nicht einmal, dass ich existiere. Das Gleiche gilt andersherum für meine Eltern. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater sind sehr skeptisch, was Kennenlernen im Internet angeht. „Das sind doch eh alle alte Perverse, die nur kleine Kinder verarschen wollen", sagt auch meine Oma, als ich sie mit meinem Bruder zusammen besuche. Wir sitzen in der Küche und essen Kuchen – gekauften, denn im Gegensatz zu gefühlt jeder anderen Großmutter auf der Welt kann meine überhaupt nicht backen oder kochen. Das Gespräch kommt nicht wirklich in Schwung, also melde ich mich zu Wort. „Ich hatte heute das erste Mal den Theaterkurs, den in der Schule." - „Theater? Das ist ziemlich schwul", bemerkt meine Oma und nimmt einen Schluck Kaffee. Ich seufze. „Ich mach doch nur Spaß, Dougy", sagt sie lachend. „Und welche Kurse hast du jetzt noch gewählt, TJ?", wendet sie sich an meinen Bruder. Der legt wortlos die Gabel beiseite, steht auf und setzt sich an Grandmas uraltes Klavier. Verwundert sehen wir zu, wie TJ spielt, als hätte er nie etwas anderes getan. Nachdem die letzten Töne von „The Cascades" verklungen sind, ist meine Oma vollkommen überwältigt und ich sprachlos. Das letzte Mal, dass ich meinen Bruder Klavier spielen sah oder vielmehr hörte, war vor guten zwei Jahren. Es hat ihn immer wütend gemacht, üben zu müssen, während ich Freizeit hatte, aber jetzt strahlt er über das ganze Gesicht, als Grandma ihn in den Arm nimmt. „TJ... du... du kannst es noch", stammelt sie und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich spiele im Musikensemble", erwidert mein Bruder nur. Es ist das erste Mal, dass ein Hauch von Stolz in seiner Stimme liegt. Er war glaube ich noch nie auf etwas stolz, da er nie dachte, dass er wirklich gut in einer Sache sein könnte. Aber er kann sehr gut Klavierspielen, und jetzt hat er das bemerkt. Vielleicht war das ja endlich ein Schritt in die richtige Richtung. 

TJ

Die Pausen in den nächsten Tagen verbringe ich immer wieder im Musikzimmer und übe. Bei Mom haben wir leider kein Klavier, und jedes Mal zu Grandma oder Dad zu fahren ist zu aufwendig. Ständig passiert es, dass durch das Fenster jemand zusieht. Doch jedes Mal, wenn ich wieder hinsehe, ist niemand da. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, wer weiß. Ich meine, wer sollte mir auch beim Spielen zusehen? Ich bin weder besonders begabt noch besonders schön. Der Unterricht geht noch immer an mir vorbei. In Gedanken versunken spiele ich Klavier auf der Tischkante. „TJ!", werde ich plötzlich aufgerufen. Ich schrecke hoch und blicke direkt in Seans Gesicht. Erschrocken rutsche ich mit dem Stuhl ein Stück zurück. „Ih, was machst du denn hier?" Er grinst mich nur dumm an. „Dich aufrufen, damit du das nächste Ergebnis an die Tafel schreiben kannst." Er will mir die Kreide in die Hand drücken, doch ich ziehe meine weg, so dass die Kreide am Boden zerbricht. „Etwas mehr Beeilung, Jungs." Marshall, der Mathelehrer, tappt erwartungsvoll mit den Fingern auf sein Pult. Ich hebe die Reste vom Boden auf und gehe an die Tafel. Da ich die letzten Minuten komischerweise in einer Parallelwelt verbracht habe, weiß ich natürlich überhaupt nicht, worum es geht und stehe dumm vor der Tafel rum. Schließlich hat Marshall genug. „Ok, TJ. Setz dich wieder. Jesper, versuch du es doch bitte mal." Ich lasse mich wieder auf meinen Platz fallen. Die Stunde ist zum Glück gleich vorbei, deshalb beginne ich, meine Sachen einzupacken. Da fällt aus meinem Collegeblock auf einmal ein Zettel, der definitiv nicht von mir stammt. Unauffällig  hebe ich ihn auf und schaue ihn an. Es steht nicht viel drauf, nur vier Wörter. Stone Sour – Through Glass. Was zur Hölle hat das bitteschön zu bedeuten? Ist Stone Sour nicht ein Cocktail oder so? Ich stopfe den Zettel in meine Hose und vergesse ihn, bis ich zuhause bin. Dort gebe ich die Worte bei Google ein. Es öffnet sich ganz oben ein Link zu einem Video. Ich öffne es und höre mir den Song an. I'm looking at you through the glass - Don't know how much time has passed - Oh God it feels like forever - But no one ever tells you that forever feels like home - Sitting all alone inside your head. Ich zucke zusammen und pausiere das Lied. Dieser Zettel muss von der Person kommen, die mich beim Klavierspielen beobachtet hat. Wer könnte es sein? Irgendein Mädchen aus meinem Mathekurs. Anne? Betty? Prudence? Valerie? Ich habe keine Ahnung. Valerie sieht echt nicht schlecht aus, aber wirklich anziehend finde ich sie nicht. Anne und Betty hat mein Bruder irgendwie eh vergrault, und Prudence, oh bitte lass es nicht Prudence gewesen sein. Leider ist sie die, die am ehesten auf die Gestalt zutrifft. Groß, blond. Oh Gott. Was will sie von mir?

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