Kapitel 14

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Douglas

Ms. Jones überzieht bei der Theaterprobe bestimmt eine halbe Stunde und ich bin froh, meinem Bruder bereits den Autoschlüssel gegeben zu haben, denn so ist mein Auto jetzt immerhin schon warm. Vor einer Woche hatte es noch an die 70°F, und jetzt ist die Temperatur auf vielleicht 40°F gefallen. Verrücktes Wetter, hier in Kalifornien. Gut gelaunt mache ich mich auf den Weg zum Parkplatz. Ich habe heute das perfekte Weihnachtsgeschenk für Anne gefunden, und kann es kaum erwarten, es zuhause fertig zu machen – auch wenn es schon fast zehn Uhr ist. Doch als ich um die Ecke biege, ist die Straße leer, mein Wagen parkt nirgendwo. Hab ich mich doch in die Seitenstraße gestellt? Langsam wird es doch ein wenig kalt hier außen. Ich beschließe, meinen Bruder anzurufen. Niemand hebt ab, so dass mich langsam ein ungutes Gefühl beschleicht. Mit zittrigen Fingern wähle ich Moms Nummer. „Ist TJ zuhause?", frage ich ohne eine Begrüßung. „Nein – er ist nicht bei dir?" Auch, wenn meine Mutter ihn gestern noch angeschrien und am Liebsten rausgeworfen hätte, jetzt macht sie sich Sorgen um meinen Bruder. „Deswegen rufe ich an. Ich kann mein Auto nicht finden, und er geht nicht ans Handy", fasse ich die Situation zusammen. Meine Mutter seufzt. „Bitte sag mir, dass er nicht die Schlüssel hatte." Ich schlucke. „Doch." - „Oh Gott", murmelt Mom nur. „Bleib wo du bist, ich hole dich ab und dann suchen wir ihn." Meine Mutter braucht keine zehn Minuten. Gerade, als ich einsteige, klingelt ihr Telefon. „Hallo? - Ja, das bin ich. - Oh, Gott, was ist passiert? - Wie geht es ihm? - Natürlich. Ich komme sofort." Sie klingt so sachlich, doch kaum hat sie aufgelegt, bricht meine Mutter in Tränen aus. „TJ hatte einen Unfall", flüstert sie. Obwohl ich mir vom Gesprächsinhalt schon Ähnliches habe erschließen können, bin ich geschockt. Irgendwie schaffe ich es doch, einigermaßen rational zu denken, so dass ich meine Mutter und mich zum Krankenhaus fahre. Dort müssen wir allerdings eine Weile warten, da mein Bruder gerade noch behandelt wird. Nach zwei Stunden kommt eine Schwester zu uns. „Sie wollen zu Thomas Hammond, richtig?" Meine Mutter steht auf und nickt. Als ich den beiden folgen wird, hält mich die Schwester auf. „Tut mir leid, aber momentan darf ich nur einen Besucher zu ihm lassen." Ich nicke. Doch statt mich wieder auf die Stühle im Flur zu setzen und weiter die Wand vor mir anzustarren, gehe ich nach außen um ein wenig frische Luft zu schnappen. Eigentlich sollte ich Sean anrufen um ihm von TJ zu erzählen, aber ich möchte nicht wirklich mit ihm reden. Außerdem kann er heute eh nicht mehr vorbeikommen. Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, klingelt mein Handy. Natürlich ist es Sean. Ich zögere, ob ich wirklich abheben soll, tue es letztendlich doch. Er macht sich bestimmt sowieso schon Sorgen. „Hallo?" - „Hi, Douglas. Wo ist TJ?" Sean klingt vollkommen aufgelöst. „Er ist im Krankenhaus." - „Im Krankenhaus? Was ist passiert?" - „Er hatte einen Autounfall. Ich weiß auch nichts Genaueres", antworte ich knapp. Am anderen Ende der Leitung ist Geraschel zu hören. „Mach dir keine Mühe, Sean, du kannst ihn eh nicht besuchen. Die lassen mich nicht mal rein." Ich lege mit dem Versprechen, ihn zu informieren, wenn es Neuigkeiten gibt, auf. Dann kehre ich ins Innere des Krankenhauses zurück, da es langsam kalt wird. Ich schreibe ein wenig mit Anne, bis meine Mutter schließlich endlich wiederkommt und wir nach Hause fahren. Auf der Fahrt berichtet sie mir von den Verletzungen meines Bruders. „Anscheinend ist er mit dem Auto irgendwie auf die Gegenfahrbahn gekommen, und dieses Auto ist voll in ihn reingerast. Dem anderen Fahrer geht es soweit ganz gut, TJ hat einige Prellungen, eine Gehirnerschütterung und sein Knöchel ist gebrochen. Wir können von Glück reden, dass nichts Schlimmeres passiert ist." Die ganze Zeit über bleibt ein Gedanke unausgesprochen im Raum hängen. Das Auto ist vermutlich nicht „irgendwie" auf die andere Seite der Straße gekommen. Die Reaktion meiner Mutter auf sein Outing, Grandmas Tod und der Streit, den er laut Sean mit ihm gehabt hat, sind genug Indizien dafür, dass dieser Unfall gar kein Unfall war. Das alles geht mir den ganzen Abend durch den Kopf, so dass ich ständig an die Geschehnisse vor gut einem Jahr denken muss. Immerhin steht mein Vater jetzt nicht mehr so in der Öffentlichkeit, weshalb jetzt wohl kein Hahn nach diesem Unfall krähen wird. Damals war das alles eines der Top-Meldungen in den Lokalnachrichten von Thousand Oaks. Die Überschriften haben sich in meinem Kopf eingeprägt wie ein Brandmal. TJ Hammond: Suizidversuch! - Sohn des Bürgermeisters jetzt im Krankenhaus. So etwas in der Zeitung zu lesen ist ein sehr komisches Gefühl. Normal kennt man die Leute, über die diese Artikel gehen, nicht, aber wenn es der eigene Bruder ist... Ich glaube, wenn ich dieses Mal so etwas irgendwo in den Nachrichten lese, werde ich verrückt. Verzweifelt versuche ich einzuschlafen, doch immer wieder kehren die Erinnerungen zurück und jedes Mal werden sie klarer, bis ich schließlich die ganze Situation ein zweites Mal durchlebe. Es ist früh am Morgen, ich wache mit einem unguten Gefühl auf. Nachdem ich mich angezogen habe, verlasse ich mein Zimmer, um ins Bad zu gehen. Dort begegne ich meinem Vater. „Guten Morgen", begrüßt er mich. „Weckst du bitte TJ auf? Wir müssen heute früher los, es soll sich alles stauen in der Stadt." Ich nicke zur Bestätigung und gehe ins Zimmer meines Bruders. Er scheint gestern einfach so eingeschlafen zu sein, denn er trägt noch seinen schwarzen Pulli und Jeans. „Aufstehe, wir müssen bald los!", rufe ich, doch er rührt sich kein Stück. Ich seufze und rüttle ihn, als mir plötzlich ein orangenes Döschen auf dem Nachttisch auffällt. Ich schaue es mir genauer an. Es sind Dads Schlaftabletten, und sie sind leer.

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