Teil 15

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Wer kämpft kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Als sich der Kader das nächste Mal versammelte, herrschte eine trügerische Ruhe zwischen den einzelnen Mitgliedern. Im gesitteten, ruhigen Tonfall unterhielt man sich miteinander, wobei keiner gegen den anderen die Stimme erhob. Doch es war deutlich zu sehen, dass man im Begriff war, Fronten zu bilden und Allianzen zu schließen. Natürlich war die Neuigkeit, dass Desirée noch lebte, schnell zu den anderen Erzengeln übermittelt worden. Dies war auch der Hauptgrund, weshalb dieses Treffen stattfand. Es waren schon zahlreiche Gerüchte im Umlauf, welche Fähigkeiten der Engel besaß, dass Lijuan sie so lange Zeit gefangen gehalten hatte- doch es blieb bei Gerüchten, dafür hatten Dimitri und seine Leute schon gesorgt. Denn in diesem Punkt waren sie sich alle einig, es würde zum unausweichlichen Krieg kommen, wenn die wahre Macht Desirées bekannt wurde. Eigentlich konnte man sogar von Glück reden, dass Lijuan sie nicht für mehr Gräueltaten missbraucht hatte. Diese Frage beschäftigte vor allem zwei aus Raphaels reihen, doch solchen Spekulationen hatten Zeit und mussten notgedrungen auf die lange Bank geschoben werden.

Als Raphael bei dem Treffen auftauchte war er sich indes durchaus im Klaren, dass die anderen Kadermitglieder ziemlich eifersüchtig auf ihn waren, da er es mal wieder gewesen war, der den Engel endlich gefunden hatte. Auch wenn dies natürlich nicht ganz stimmte. Schließlich war sie mehr oder minder freiwillig zu ihm gekommen. Doch von sich aus würde er den anderen Mitgliedern auf jeden Fall nichts von seiner verkorksten Verbindung zu Lijuan erzählen. Dass ihn der Erzengel des Grauens auf irgendeine höchst komplizierte Weise zu mögen schien, war schon für Raphael schwer begreiflich. Die anderen Kadermitglieder würden ihn mit nur noch größerem Misstrauen begutachten, führte er doch schon eine ganz und gar andere Herrschaftspolitik als die anderen. Denn die meisten von ihnen hatten sich noch immer einen Königshof aufgebaut, wohingegen er als einziges Zentrum seiner Macht den engelsturm sah und auch dort war prinzipiell jeder willkommen.

Auch wenn er mittlerweile sowohl Elias als auch Titus einiges an Vertrauen entgegenbrachte. So wusste er aber auch, dass sich auf der anderen Seite Lijuan und Charisemnon immer näher kamen. Gleichzeitig waren Titus und Charisemon so in ihre Konflikte verrannt, dass sie sich momentan lieber gegenseitig bekämpften als sich um irgendeine Da war es ihm sogar noch lieber, dass man eifrig damit bemüht war die Wahrheit herauszufinden. Er hatte von Anfang an gewusst, dass es nicht einfach sein würde, als so junger Engel sich im Kader, dem mächtigsten Gremium, das die Welt kannte, zu behaupten. Aber man war auch eindeutig sauer auf sich selbst, dass die Erzengelfrau sie alle hinters Licht hatte führen können. Natürlich war die selbsternannte Göttin nicht zum Treffen gekommen, aber das war auch nicht nötig. Die Engel glaubten ohne zu zögern den Aussagen Raphaels, vor allem, da er ein eindrucksvolles Bild von Desirées Rücken mitgebracht hatte, auf dem unübersehbar Lijuans Zeichen brannte.

„Was machen wir jetzt?", fragte Neha in die Runde. Nichts mehr war von der sanften Frau übrig, als die sie in ihrem Land galt. Im Gegenteil man sah die eiskalte berechnende Königin und Herrscherin aus ihr hervorkommen. „In den Krieg ziehen", schlug Titus, der wie immer recht wortkarg war, aber die Tatsachen auf den Punkt brachte. Ein Krieg schien wirklich unausweichlich zu sein, denn Lijuan hatte mit der Entführung und Gefangennahme eines Kindes ein furchtbares Verbrechen begangen und dies zu einer Zeit, in der sie durchaus noch bei Verstand gewesen war und eigentlich immer diejenige war, die sich am strengsten an das Protokoll der alten Zeit hielt. Unter den Engeln gab es in dieser Hinsicht nun mal nur ein Gesetzt und dies hieß: Die Kinder sind uns heilig. Dass sie es gebrochen hatte, sprach im Nachhinein für ein deutliches Indiz, dass sie eines Tages zu der Person werden würde, die sie heute war.

Wahnsinn war eine Krankheit, die sich langsam, aber sicher in den Geist seines Opfers schlich. Es gab schon Jahrhundert vor dem Ausbruch erste Anzeichen, aber man musste sie erkennen und wenn es soweit war, nicht die Augen vor der Wahrheit verschließen. Dies wusste Raphael aus eigener Erfahrung nur zu gut. Sowohl er als auch seine Mutter hatten die Augen verschlossen und wollten die Wahrheit nicht akzeptieren, als einer aus der Familie wahnsinnig wurde, doch jetzt fragte er sich, ob dies vielleicht der falsche Weg war, hatte seine Verlobte ihm doch gezeigt, dass man Probleme schon an der Wurzel packen und im Keim ersticken musste. Die Realität wurde nur noch schlimmer, je länger man wartete.

EngelsflügelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt