Teil 6

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Auge um Auge- und die Welt wird blind sein.

So verging die erste Woche und noch immer konnte man sich nicht sicher sein, wer der gefallene Engel war, aber je mehr heilte, desto sicherer wurde man sich, dass es Desirée sein musste. Die Augen und Haare, an denen man sie mit Sicherheit hätte identifizieren können, waren noch nicht wieder nachgewachsen. Sie waren nicht wichtig genug, als dass sie der Körper in naher Zukunft würde wiederherstellen können. Dieser konzentrierte sich in erster Linie auf die Heilung der lebenswichtigen Organe, bevor er mit dem Rest weitermachte. Dem Engel würden unter normalen Bedingungen Jahre der Qualen bleiben, auch wenn er alt genug war, um in den Heilschlaf der Engel zu fallen. Dort heilte ein Engel besonders schnell, aber sein Körper konzentrierte sich dann nur noch ausschließlich auf diese Sache. Er konnte also in der realen Welt umgebracht werden, ohne dass dieser es überhaupt bemerken würde, denn in diesem Stadium nahm der Engel nichts wahr.

Deswegen war es auch nicht verwunderlich, dass wann immer Elena in die Krankenstation kam einer von Raphaels Sieben da war. Heute traf sie auf ihren Gemahl höchstpersönlich, als sie die Türen zu dem extra für den gefallenen Engel abgetrennten Bereich öffnete. Raphael sah vollkommen ausgelaugt aus, wobei seine Flügel schon schlaff am Boden hingen. Eine absolute Seltenheit und unwiderruflich ein Zeichen der Schwäche, denn so etwas dürfte ihm nicht mehr passieren. Bereits die kleinsten Engel wurden ständig dazu angehalten ihre Flügel oben zu halten, denn sie waren ein Teil ihres Körpers und durften genauso wenig vergessen werden, wie ein Arm oder ein Bein. Im Ernstfall könnte diese Leichtsinnigkeit sehr schnell zum Tod führen. So war es irgendwann tief im Wesen der Engel verankert, dass die Flügel oben zu sein haben, dass dies ohne Nachdenken und Anstrengung passierte.

Deswegen erschreckte Elena noch mehr, als sie ihren Gemahl so sah. Sofort eilte sie zu ihm und stützte ihn. „Wie lange warst du bei ihr?", fragte sie ihn, offene Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit. Einige Stunden kam die Antwort in ihrem Kopf. Wenn er nicht so furchtbar verletzlich ausgesehen hätte, hätte sie ihn dafür geschlagen. Auch Dimitri machte ein finsteres Gesicht, als er seinen besten Freund in diesem Zustand sah.

Ausnahmsweise neckte er Elena nicht mit seinem betörenden Geruch, was sehr für den Ernst der Situation sprach. Denn sonst ärgerte er sie wo er nur konnte, denn geborene Jäger, wie sie eine war, reagierten besonders stark auf den erotisch sinnlichen Duft der Vampire. Und Dimitri schien diese Gabe, die nur alte Vampire wirklich beherrschten, besonders ausgeprägt zu haben. Zwar ermahnte seine Gemahlin ihn des Öfteren Elena damit nicht immer so zu ärgern, doch es machte ihm einfach zu viel Spaß. Honor selbst war keine geborene Jägerin, aber mit der Zeit hatte er auch für sie eine ganz besonderen Duft entwickelt, der sie an Dinge denken ließ, die nur feuchte Träume hervorbrachten.

Ruf Illium kam nun der schwache Befehl seines Erzengels. Zwar fiel es diesem einfacher mit Elena zu kommunizieren, doch die Sieben hatten noch nicht eine solche Verbindung zu hier aufgebaut, dass ihr Geist jederzeit für sie offen stand. Dimitri nickte kurz und half dann der Gemahlin ihren Engel zu stützen. Was ist passiert? fragte der Anführer der Sieben den Erzengel in Gedanken. Er wusste, dass Raphael oft auf der Krankenstation gewesen war, um den Heilungsprozess des noch immer im Sterben liegenden Engels zu beschleunigen, doch so verausgabt hatte er sich dabei noch nie. Sie war kurz bei Bewusstsein und hat nach ihm verlangt. Sie ist auf dem Weg der Genesung. beantwortete der Erzengel seine Frage. Überrascht zog Dimitri eine Augenbraue hoch und auch Elena, die er ebenfalls an dem kurzen Gespräch teilhaben ließ, stieß ein laut der Verwunderung aus. Das heißt es ist wirklich sie? fragte der Vampir nun voller Sorge. Sein Sire nickte nur steif, bevor er kurz in Ohnmacht fiel, denn als er mit Sicherheit erkannt hatte, wer der Engel war, hatte er alles daran gesetzt mit ihm zu reden. Er wusste, dass es mehr als leichtsinnig gewesen war, sich so zu verausgaben, aber er wollte sie mit aller Macht von dem Abgrund wegreißen, der sie zu verschlingen drohte, dabei wusste er noch nicht einmal, ob dies ein Akt der Gnade war oder ob der Tod sie mit offenen Armen empfangen hätte. Aber er war nun mal auch bis zu einem gewissen Grad sehr selbstsüchtig und dazu gehörte auch diesen Engel am Leben zu erhalten.

Den Schmerz in Illiums und Aodhans Augen, an dem Tag ihrer Entführung würde er niemals vergessen und schon gar nicht den Schmerz in den Augen von Aodhans Eltern. Sie waren seitdem nie mehr dieselben gewesen, aber wie denn auch, wenn ihnen ein wichtiger Bestandteil ihrer Seele fehlte. Er hatte ihnen schon damals versprochen ihre kleine Tochter zu finden, egal ob tot oder lebendig. Lange Zeit war dieses Versprechen in den Hintergrund seiner Gedanken gerückt, hatte man doch seit guten 500 Jahren nicht mehr von ihr gehört oder gesehen, aber jetzt wollte er alles daran setzten, ihnen die Tochter zurückzugeben, die sie einst verloren hatten, obwohl er mit großer Sicherheit wusste, dass Desirée niemals dieselbe sein würde, wie damals.


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