Teil 14

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Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern.

Raphael stand mit seiner Verlobten auf dem Balkon seiner Suite und erwartete die Neuankömmlinge bereits, als diese nun eintrafen. Ehrfürchtig senkte Desirée sogleich den Blick und lies den Kopf auch weiterhin gesenkt. „Raphael", begrüßte sie den Erzengel von New York ganz nach dem Protokoll. „Desirée", erwiderte dieser genauso formell, „willkommen in meiner Stadt." Daraufhin nickte der Engel langsam. „Danke", antwortete sie geflissentlich. Eine Pause entstand in der keiner so recht wusste, was er sagen sollte. Doch wie immer rettete die Gemahlin des Erzengels die Situation. „Vielleicht willst du dich zuerst einmal ausruhen oder frisch machen. Es war schließlich ein langer Flug", schlug Elena vor. Wieder ein zögerndes Nicken. „Dann komm, ich kann dir zeigen, wo du die entsprechenden Räumlichkeiten findest", bot sich die Jägerin an. Sie sprach extra formell, da sie sich nicht ganz sicher war, was in dieser Situation das Beste war. So verließ sie sich lieber auf das Protokoll, wie auf ihren Instinkt, denn dieser sagte ihr immer, sie sollte möglichst natürlich sein. Mit festen Schritten ging sie auf die Balkontür zu und hörte, wie Desirée ihr folgte. Doch es waren zwei unterschiedliche Schritte, die sie hinter sich wahrnahm. Als sie sich umdrehte entdeckte sie Illium, der dem Gast wie ein Schatten folgte. Fragend hob sie eine Augenbraue.

„Er hat mir etwas versprochen", kam es zur Überraschung aller von Desirée als Antwort. „Okay", schloss Elena daraufhin, „dann kann ja unser Glockenblümchen dir alles zeigen" „Gerne", erwiderte die schüchterne junge Frau ihr und wartete, dass Illium nun die Führung übernahm. Aber dieser blieb neben ihr stehen, reichte ihr ganz altmodisch seinen Arm und lächelte sie verschmitzt an. „Wollen wir", fragte er sie sanft. Ein Lächeln huschte über das sonst so ernst wirkende Gesicht. „Natürlich", kam es frech von ihr. Doch Illium führte sie nicht zu einem der Gästezimmer des Turms, sondern direkt in sein eigenes Zimmer. Überrascht blieb Desirée an der Türschwelle stehen. „Was ist?", fragte der blaugeflügelte Engel, als er das Zögern seiner Freundin bemerkte. „Ich...", begann der Gast, wusste aber nicht so recht, wo er anfangen sollte, „du kennst mich doch kaum" „Na und", entgegnete Illium ihr, „dann lass mich dich besser kennen lernen." Daraufhin seufzte Desirée und dies klang fast so, als würde sie etwas aufgeben. Tausend Gedanken gleichzeitig schwirrten durch Illiums Kopf. War er doch zu schnell vorgegangen? Brauchte sie noch Zeit? Aber seine alte Freundin enttäuschte ihn nicht. „Okay", gab sie nach einem kurzen Augenblick nach, „ruf alle wichtigen Leute deines Erzengels zusammen. Ich glaube ich habe euch so einiges zu berichten. Lass mir aber trotzdem kurz Zeit unter die Dusche zu gehen. Der Tod hinterlässt seine Spuren" Illium nickte und ging langsam auf sie zu. Er wollte, dass sie seine Absichten kannte und nötigenfalls ihm ein Signal geben konnte, dass es zu viel sei. Doch sie ließ ihn gewähren. Sanft hob er ihr Kinn an und wollte ihr in die Augen sehen, doch sie schloss sie in aller letzter Sekunde. „Was soll das?", fragte er frustriert. Es machte ihn wahnsinnig, dass er nicht mehr das Leuchten und Strahlen ihrer Augen sehen durfte. „Erkläre ich dir gleich", bekam er als Antwort, wobei ihm Desirée vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Lippen strich. Seine Lippen öffneten sich automatisch und er kam nicht drum rum ihr einen Kuss auf die Fingerspitze zu drücken. Ein sanftes Lachen erfüllte den Raum, was sofort zu Illiums Lieblingsmusik wurde. Dieses Geräusch wollte er bis in alle Ewigkeit hören. Es kostete ihn all seine Willenskraft sie nicht an sich zu ziehen und sie heftig und stürmisch zu küssen. Aber gleichzeitig rief er sich ins Gedächtnis, was für Höllenqualen sie in der Vergangenheit wohl erlebt hatte. Er konnte dies alles nur erahnen, doch er war sich ziemlich sicher, dass seine schlimmsten Alpträume nicht einmal ansatzweise an die Folter heranreichten, die man seiner Freundin zugedacht hatte. Trotzdem beschäftigte er sich noch einige Augenblicke länger mit ihrem Finger und löste sich erst dann von ihr. In dieser ganzen Zeit war Desirée einfach nur steif dagestanden und hatte sich keinen Millimeter bewegt. Besorgt sah er sie an, doch sie schüttelte nur den Kopf. „Geh jetzt und hol deine Freunde. Wir müssen reden", befahl sie ihm und verschwand dann Richtung Bad.

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