Teil 5

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Feig, wirklich feig, sind nur die, die sich vor ihren Erinnerungen fürchten.

Ein Klopfen an der Tür riss den blaugeflügelten Engel aus seiner Trance. Als sie sich einen Spalt breit öffnete, hatte er auch schon das erste Messer geworfen, das jedoch von dem nun eintretenden Engel lässig gefangen wurde und zwar am scharfen Ende. Der Gast hob fragend eine Augenbraue, doch Illium schüttelte nur den Kopf. Wenigstens war sein bester Freund klug genug, um es darauf beruhen zu lassen. „Sie konnte auf die Krankenstation verlegt werden", kam Aodhan sofort zur Sache. Das und vieles mehr liebte der er an seinem besten Freund. Er hinterfragte nicht und war auch nicht beleidigt, wenn man Geheimnisse hatte, denn er wusste, wie kein anderer, was dies für die Seele bedeutete. „Danke", antwortete Illium nach einer Weile, ließ dabei alles andere im Raum zwischen ihnen verklingen mit der Sicherheit, dass Aodhan ihn verstand. Dieser nickte kurz und ging dann Richtung Balkon um sich zum Abflug bereit zu machen. Er hatte bereits die Flügel ausgebreitet, als er sich noch einmal zu dem blaugeflügelten Engel umdrehte. Dieser stand, völlig in seine eigene Welt vertieft, starr wie eine Statue da und schien seinen Freund überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. „Wir können andere nicht hassen, ohne uns selbst zu schaden, Glockenblümchen", versuchte er zu ihm durchzudringen, denn er wusste besser als kein anderer, woran oder besser an wen Illium gerade dachte. Er hatte für einen kurzen Moment ebenfalls die Hoffnung gehabt, dass der gefallene Engel seine Schwester sei, aber jetzt, nachdem er in groben Zügen das Ausmaß ihrer Folter gesehen hatte, wusste er nicht mehr, was er sich wünschen sollte. Denn wenn sie es wirklich war, dann würde er ihren Folterknecht mit eigenen Händen umbringen und sich an dem Schmerz, der demjenigen durch ihn bevorstand genießen, so wie dieser es höchstwahrscheinlich genossen hatte. Doch zur Zeit hoffte er hauptsächlich für seine kleine Schwester, dass sie es nicht war, die mit zermalmten Knochen auf der Krankenstation lag.

Denn so sehr er Egoist war und sich Desirée wieder zurück an seine Seite wünschte, so sehr war er auch ich großer Bruder. Es war seine Pflicht sie zu beschützen, eine Aufgabe, bei der er schon einmal versagt hatte. Engel waren nicht so unsterblich, wie viele Menschen glaubten und so, wie es jetzt aussah, hatte man dem Engel immer gerade so viel Schmerz zugefügt, dass er mit Müh und Not überlebte. Dennoch...ein sauberer Schnitt, bei dem der Kopf vom Körper getrennt wurde oder der Bruch der Wirbelsäule, und ein Engel unter fünfhundert Jahren starb dabei. Elena konnte sogar noch von einem relativ starken Vampir getötet werden, weswegen Raphael manchmal noch mehr Angst um sie hatte, wie um sein eigenes Leben. Er konnte sich gegen so gut wie jede Macht stellen, die ihm entgegentrat. Elena war dazu noch zu jung. Doch nicht nur das Alter des Engels, sondern auch etwas anderes hatte man feststellen können. Die Flügel fehlten tatsächlich, wobei Aodhan zuerst ähnliche Hoffnungen gehegt hatte, wie sein bester Freund. Aber Keir hatte sie enttäuschen müssen. Höchstwahrscheinlich würden die Flügel noch nicht einmal nachwachsen, denn die Ansätze waren mit Lijuans Macht so verseucht, dass der Heiler kaum noch eine Chance der Regeneration sah. Raphael hatte zwar versprochen, dass er versuchen würde mit Wildfeuer zu heilen, aber selbst er wollte nicht mit Sicherheit sagen, dass dies funktionieren würde. Zwar konnte das Wildfeuer, bestehend aus der Macht von seinem und Elenas Herzen, Lijuans Macht absorbieren und neutralisieren. Doch diese Macht war eigentlich für den Kampf gedacht und nicht in der Verbindung seiner Heilsmagie. Aodhan hatte die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit seines Sires sehr geschätzt, trotz allem war es nicht die Antwort, die er hören wollte. Dabei war es ihm sogar egal, ob es sich bei dem gefallenen Engel um seine Schwester drehte oder nicht.

Mit diesem Gefühl voll unbändiger Wut flog er los und wäre dabei fast mit dem Erzengel von New York zusammengestoßen, der in diesem Moment zur Landung auf Illiums Balkon angesetzt hatte. Nur die unglaubliche Geschicklichkeit und Wendigkeit seiner Flugkünste konnten Raphael davon abhalten nicht gegen die Glasscheibe aus Panzerglas zu krachen. In diesem Fall wäre sich Aodhan noch nicht einmal sicher gewesen, wer zuerst nachgegeben hätte- die Scheibe oder Raphaels Körper. Schnell entschuldigte sich der Engel mit den Flügeln aus tausend Dimant Splitter bei seinem Sire, bevor er davonflog.

Stirnrunzelt schaute dieser ihm nach, bevor er sich seinem nächsten Sorgenkind zuwandte. Er wusste, dass Aodhan in letzte Zeit sich eigentlich stabilisiert hatte, aber er kannte auch die Hölle, in die er noch jeder Zeit wieder zurückkehren konnte. Gleichzeitig verstand er besser, als alle anderen, was für ein Gewissenskonflikt sein Freund gerade innerlich ausfocht. Er selbst wusste nicht, was er hoffen sollte. Desirée war noch viel zu jung, um diese Folter ohne bleibenden Schäden überlebt zu haben. Noch war sich keiner sicher, dass der Engel überhaupt sie war. Zwar wünschte es sich jeder, doch gleichzeitig hoffte Raphael um das Gegenteil. Er wollte nicht, dass dieser kleine, glückselige Engel, der sie einst war, durch solche eine Hölle hat gehen müssen. Er wusste, dass es falsch war, dieses Schicksal einem anderen zu wünschen, aber wenn er die Auswirkungen dieser Geschehnisse nun bei seinen Sieben sah, wie mitgenommen und in sich gekehrt alle waren und wie nah ein paar von ihnen am Rande des Wahnsinns standen, da konnte er nicht anders.

Aber am meisten Sorgen machte er sich derzeit um einen anderen seiner Sieben als Aodhan. Der blaugeflügelte Engel schaute ihn aus seinen goldenen Augen an, wobei er dennoch bemerkte, dass Illium nicht ihn, sondern die Vergangenheit sah. Wie eine leichte Mahnung streifte er seinen Geist und holte ihn damit in die Gegenwart zurück. „Aodhan hat Recht", sprach er nun dieses mehr als heikle Thema an, „die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, aber dafür die Zukunft. Bleib bei uns. Ich bin noch nicht bereit dazu, einer meiner Sieben zu verlieren." Ruckartig hob der blaugeflügelte Engel mit dem fast schon sterblichen Herzen seinen Kopf und schaute seinen Sire herausfordernd an, „Sie glauben also, dass ich diesen Kampf verlieren werde", fragte er mit eiskalter Stimme. Jetzt war er ganz der Krieger, ein Mann, der ohne nachzudenken tötete. „Nein, das glaube ich nicht", erwiderte Raphael bedächtig, „ich weiß, dass du noch nicht stark genug bist ein Erzengel zu werden. Du kannst die Kraft nicht halten, die dir dieser Rang aber geben würde. Du würdest daran zerbrechen, nicht gleich, aber spätestens nach einem Jahrhundert. Noch kann ich deine Kraft in mich aufnehmen, aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch kann" Und mit einem mal, war aus dem starken Krieger mit dem fast schon seelenlosen Blick ein kleiner Junge geworden, der mit seinen Kräften am Ende war. „Ist das normal?", fragte dieser deshalb seinen Erzengel in dem Wissen, dass er ihn auch ohne weitere Worte verstand. Dieser nickte: „Ja, genauso, wie wenn du im Koma liegst, holt dich auch beim Aufstieg zu Erzengel die Vergangenheit ein. Nur die Engel mit einem reinen Herzen schaffen den Aufstieg ohne daran Schaden zu nehmen," Illium schwieg daraufhin lange, aber Raphael hatte in dem Jahrtausend, das er nun lebte gelernt, dass Geduld eine Tugend war und wartete deshalb bis sein Freund das eben gehörte verarbeitet hatte.

„Was ist, wenn sie es wirklich ist?", fragte der blaugeflügelte Engel nach einiger Zeit. Wieder konnte Raphael ohne Probleme dem Gedankengang folgen und wusste, dass es nun um den gefundenen Engel ging. „Dann werden wir alle, die auch nur im entferntesten damit zu tun haben oder hatten hinrichten", beantwortete er deswegen die Frage genauso gefühlslos, wie man in dieser Situation nur sein konnte. Wenn es tatsächlich Desirée sein sollte, dann würden sie wenn nötig die ganze Welt zu Grunde richten. Keiner tat einem seiner Sieben auch nur im Entferntesten ein Leid an und schon gar nicht seiner Gemahlin, Elena. Genauso, wie, dass die Sieben jederzeit ohne zu zögern ihr Leben für seines geben würden, so würde er das Gleiche tun. Er kannte die Ängste und Sorgen seiner besten Freunde, wusste, was sie zu dem machte, der sie heute waren. Genauso wie er wusste, dass die Sieben stark genug waren, sich selbst zu verteidigen. Aber sie hatten ihm die Treue geschworen, ihr Leben in seinen Dienst gestellt. Er würde nicht tatenlos zusehen, wie einer von ihnen in der Vergangenheit gefangen blieb, ohne seinem immer wiederkehrenden Albtraum entkommen zu können.

Freundschaft bedeutete nun einmal füreinander da zu sein. So hatte er, obwohl die anderen Erzengel aus dem Kader der zehn ihn spöttisch und warnend angeschaut hatten, als er ihnen davon berichtet hatte, die Entscheidung getroffen, jedem seiner Sieben zu der Macht. Stärke und Größe zu verhelfen, die für denjenigen vorbestimmt war. Zwar hatten ihn viele vor diesem Experiment, das sie unweigerlich in der Gruppe aus vier Engeln und drei Vampiren, sahen, gewarnt. Aber diese hatten schon mehr als eine Gelegenheit gehabt, ihn zu töten und hatten es doch nicht getan. Nein, ganz im Gegenteil, sie beschützten seine Stadt mit ihrem Leben und waren im Laufe der Jahrhunderte zu starken Persönlichkeiten herangewachsen.

Und auch wenn Desirée nicht direkt zu seiner Wahlfamilie gehörte, so hatte er doch ihrer Familie das Versprechen gegeben, sich zu rächen, wenn er jemals den Täter zu Gesicht bekommen würde. Und dieses Versprechen würde er halten. 


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