Teil 4

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Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.

Illium flog schnell, er galt nicht umsonst als einer der besten Flieger in Raphaels Reihen. Deswegen landete er keine fünf Minuten nach seinem Abflug von der Engelsenklave auf einem der Turmbalkone. Auf direktem Weg rannte er zu seinen Privaträumen. Jeder von Raphaels Sieben hatte hier in diesem Teil des Turms ein Quartier, einen Ort an den er sich zurückziehen konnte. Natürlich besaßen sie alle auch Häuser in der Enklave, doch trotzdem verbrachten sie die meiste Zeit im Turm. Kein Engel war gerne alleine und die enge Bindung zwischen den Sieben war schließlich auch nicht von heute auf morgen entstanden. Doch es galt auch den Turm zu verteidigen, denn nur wenn er und dessen Erzengel fielen, gehörte Raphaels Territorium einem Anderen. Seine Leibgarde war schließlich nicht nur Zierde, sondern hinter dem oft charismatisch freundlichen Wesen eines jeden von ihnen, steckte ein eiskalter Krieger. Schon viele hatten ihn um diese Garde beneidet, hatten versucht sie abzuwerben, hatten ihnen alles versprochen. Jedoch hatten sie nie verstanden, wie Raphael ihnen so viel Freiheit, so viel Macht zukommen lassen konnte. Mehr als einmal hatte man ihn davor gewarnt, dass eines Tages einer seiner Sieben die Geschicke Manhattans lenken würde, aber er- er hatte vertraut und am Ende Recht behalten. Den Schwur, den jeder von ihnen geleistet hatte, war für sie nämlich mehr als das gewesen.

Das Band aus Loyalität und Freundschaft würde keiner der anderen Erzengel jemals verstehen, denn dazu musste man ein klein wenig Mensch sein. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, denn Engel waren keine Menschen, würden dies auch nie sein. Doch Raphael war es dann doch geworden, denn Elena war sein Herz. Die Jägerin, die er über den Trümmern von New York zu einer Unsterblichen gemacht, der er Flügel und damit in gewisser Weise auch die Freiheit geschenkt hatte, war nämlich trotz allem ein Mensch geblieben. Sterblich war sie in vielerlei Hinsicht noch immer. Man konnte sie, Raphaels Meinung nach, noch immer viel zu leicht töten, denn die Unsterblichkeit hatte einfach noch nicht genug Zeit gehabt, sich durch ihre Zellen zu fressen. Doch der schwach leuchtende Ring aus flüssigem Quecksilber um Elenas Iris der Augen zeugte von der wachsenden Unsterblichkeit. Und sie würde zu einem mächtigen und starken Engel heranwachen, dessen war sich der Erzengel von New York sicher. Es zauberte ihm schon jetzt ein Lächeln ins Gesicht, wenn er an die Ewigkeit mit seiner Gemahlin an der Seite dachte. Sie würde auf jeden Fall niemals langweilig werden.

Illium hatte in dieser Zeit sein Ziel erreicht und wühlte in einem seiner Kleiderschränke nach einem kleinen Gegenstand. Nach einer gefühlten Ewigkeit und einem Durcheinander, dass die Dienstmädchen des Hauses sicher Stunden kosten würde dies wieder in Ordnung zu bringen, hatte er es gefunden. Einen kleinen rechteckigen Karton. Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten, die er sogar glaubte vergessen zu haben, drängten sich an die Oberfläche seines Bewusstseins.

Ein kleiner Engel mit blauen Flügeln flog Seite an Seite mit einem anderen Engel. Dessen Flügel schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne wie zerbrochenes Glas. Gerade lachte Aodhan über irgendeinen Witz von seinem besten Freund, als ganz in der Nähe ein markerschütternder Schrei die friedliche Stille eines heranbrechenden Tages durch schnitt. Die beiden Jungen waren noch nicht versiert genug um in der Luft stehen zu bleiben und sich so das Geschehene anschauen zu können. Aus diesem Grund landeten sie in der Nähe des nun immer schlimmer werdenden Klagen einer Frau und liefen auf diese zu. Doch plötzlich blieb Aodhan wie versteinert stehen. „Was ist los?", fragte Illium neckend, „Hast du den Tod gesehen" Als sein Freund nicht antwortete, schüttelte der abenteuerlustige kleine Engel nur den Kopf und wollte weitergehen, aber eine starke, unnachgiebige Hand hielt ihn davon ab. Als er aufblickte, schaute er in das Gesicht seiner Mutter, das vor Sorge völlig verzerrt war. Überrascht über diesen Ausdruck, sah sich Illium die Szene vor sich genauer an. Und dabei erstarrte auch er. Die Frau, die hilflos und um Fassung ringend am Boden kniete, kannte er; er kannte sie fast so gut wie seine eigene Mutter, denn es war Aodhans. „Was ist denn passiert?", fragte der kleine Junge nun mit sorgenvoller und zittriger Stimme. Doch seine Mutter schüttelte nur den Kopf. Eine Bewegung vor ihm nahm wieder seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Gerade waren einige Engel gelandet, darunter auch Heiler. Sie wollten Aodhans Mutter ins Medica, dem hiesigen Krankenhaus bringen. Erst jetzt erkannte Illium, dass die Frau mehrere Verletzungen hatte, zudem auch eine übel aussehende am Bauch. Als die Engel wieder aufbrechen wollten, kam plötzlich Bewegung in den kleinen Jungen neben Illium. Er wollte zu seiner Mama, aber auch er wurde von der Frau, die auch seinen besten Freund so fest in den Armen barg, aufgehalten. Aodhan trat wie wild um sich, schrie, weinte, doch der weibliche Engel gab nicht nach.

EngelsflügelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt