Teil 11

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Die höchste Form der Hoffnung ist die überwundene Verzweiflung.

Währenddessen flog Illium Richtung Central Park, wo er Raphael treffen wollte. Die vielen Menschen unter ihm bemerkte er kaum. Erstaunt blickten sie mit besorgter Miene zu ihm auf, da er schnell und hart flog, was sie von ihrem Glockenblümchen gar nicht kannten. So sehr war Illium in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen. Die Stadt verschwamm unter ihm zu einem einzigen grauen Meer. Er sah weder etwas, noch spürte oder hörte er etwas. Es war, als hätte sein Körper auf Autopilot gestellt und würde nur noch existieren. Plötzlich fragte er sich, wofür er eigentlich noch lebte, da das Leben doch sowieso keinen Sinn mehr ergab. Für die Gerechtigkeit zu kämpfen, lohnte sich nicht mehr, denn diese gab es nicht mehr. Seine Freunde konnten auf sich alleine aufpassen. Eine Liebe gab es nicht in seinem Leben und wenn, dann wusste er noch nichts davon. Er wusste noch nicht einmal, was wahr war und was nicht und er bekam schon Kopfschmerzen bei dem bloßen Gedanken an die bevorstehenden Entscheidungen. Deswegen war er unterwegs zu seinem Sire. In der Vergangenheit hatte sich Raphael ihm nicht nur als Fürst, sondern auch als Freund, als sehr gut erwiesen. Deswegen hoffte er auch jetzt, dass er ihm helfen konnte.

Mit Schwung und in aller letzter Sekunde bereitete er seine Flügel zur Landung aus. Einen Augenblick später stand er neben seinem Sire, der bei diesem mehr als riskanten Manöver noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatte. Er wusste um die Flugkünste seines Freundes nur allzu gut Bescheid. Jetzt standen die beiden Engel Schulter an Schulter an dem kleinen See, der einst Elenas und Raphaels geheimer Rückzugsort war und nun zum Treffpunkt aller Sieben geworden war, wenn sie etwas auf dem Herzen hatten. Denn der See und dessen Umgebung verströmten eine solch friedliche und harmonische Stimmung, dass man gar nicht anders konnte, als die innere Ruhe wiederzufinden. Doch dieses Mal erkannte Raphael, dass es um mehr als ein Gespräch in stiller Zweisamkeit ging, sondern, dass sein Freund etwas wirklich Beunruhigendes auf dem Herzen hatte. Doch bevor er ihn auf dieses Thema ansprach, begann er mit etwas harmloserem. Zwar war er kein Freund von dem langen Drumherum Reden, doch hier galt es feinfühlig und doch offenherzig zu agieren. Er konnte mit jedem seiner Sieben über alles reden und dies galt auch andersherum. Heute bekam er die Rolle des Zuhörers. Jedoch war sein Glockenblümchen zwar eine starke Persönlichkeit, aber er hatte das sanfteste Herz von allen. Hinter dem Krieger befand sich ein doch recht zerbrechlicher Mensch und wie Raphael gerade vermutete, war dieses Herz gerade am Brechen.

Einige Augenblicke standen diese beiden himmlisch schönen Wesen einfach nur da und ließen diese besondere Stimmung auf sich wirken, dann ergriff Raphael als erster das Wort: „Du hast gebrannt." Eine Feststellung, die trotz allem eine Frage beinhaltete. Eine Erklärung, die der Erzengel von New York von einem seiner Männer forderte. Und Illium antwortete sofort: „Ja, Sire. Ich habe diese neue Kraft bei meinem Fast- Aufstieg zum Erzengel von Ihnen übernommen" „Wann hast du das festgestellt", fragte Raphael seinen Freund weiter. Besorgnis schwang in seiner Stimme mit, denn es war mehr als gefährlich, einen Engel in Illiums Alter mit solchen Kräften zu sehen. „Es war das erste Mal", klärte ihn der blaugeflügelte Engel auf. Raphael nickte dankend und für einige Momente herrschte zwischen den Freunden wieder ein einvernehmliches Schweigen.

„Weswegen bist du wirklich hier?", fragte der Erzengel von New York nach einiger Zeit. Er wusste zwar, dass Geduld eine Tugend war, doch er sah auch den Sturm von Gefühlen, der in Illium tobte. Und tatsächlich; als Antwort ließ dieser seine wunderschönen Flügel hängen und ließ sich ins Gras fallen. Dort saß er nun und wirkte wie ein Häufchen Elend. Nichts mehr schien von dem lebensfrohen Mann da zu sein, der er sonst immer vorgab zu sein und erst recht nichts mehr von dem knallharten, eiskalten Krieger, der er doch auch war. Völlig überrascht von dieser Szene setzte sich Raphael neben seinen Freund. „Was ist los?", forderte er seinen Freund nun direkt auf zu sprechen. Er hatte Illium schon oft niedergeschlagen gesehen und natürlich würde er die Wochen und Monate nach seinem Verlust der Federn nie vergessen, aber es war noch nie so extrem gewesen. Im Stillen hegte er bereits einen Verdacht, wer solch eine Stimmung bei dem blaugeflügelten Engel herbeigerufen hatte, aber er wartete ab, bis dieser selbst das Wort ergriff. „Desirée", war das einzige, was dieser dazu zu sagen hatte. „Wir werden sie finden", versprach er und das tat er nicht nur als sein Freund, sondern auch als sein Sire und als Erzengel von New York. Aber Illium schüttelte daraufhin nur den Kopf und seufzte resigniert. „Sie will nicht, dass man nach ihr sucht. Sie hat mir verboten weiterzusuchen. Sie...", fing der blaugeflügelte Engel mit seiner Erklärung an und erzählte daraufhin Raphael von seinem Traum.

EngelsflügelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt