Teil 13

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Die größten Menschen sind jene, die anderen Hoffnung geben können.

Der schrille Alarm von einem der zahllosen Messgeräte, die den Zustand Desirées überwachten, weckte Illium aus einem unruhigen Halbschlaf. Sein Kopf ruhte neben ihr auf dem Bett. Doch es war nicht gerade die Umgebung, die er sich gewünscht hatte, wenn er neben ihr aufwachen sollte. Aber er stellte schon seit langem seine Bedürfnisse hinten an, denn sie war ihm auf dem Weg zum Turm bewusstlos geworden. Er hatte gespürt, wie ihr Geist immer schwächer wurde und hatte sie sofort auf die Krankenstation gebracht. Keir hatte sich nach Kräften bemüht sie wieder aufzuwecken, überhaupt nur ein Lebenszeichen von ihr zu erhalten, doch sie blieb in dem Koma. Auch Raphael hatte sein Bestes versucht, hatte sich nächtelang um sie gekümmert, aber auch er hatte keinen Erfolg. Keir hatte ihm und auch den Sieben, die ebenfalls immer unruhiger wurde fast täglich versichert, dass dies nur eine Vorsichtsmaßnahme ihres Körpers sei und sie wieder aufwache, wenn sie dazu bereit sei. Wie eingesperrte Tiger in einem Käfig waren die Sieben anfangs über den Flur der Krankenstation geschlichen. Der Heiler hatte ihnen versichert, er würde sie rufen, wenn etwas passiere, aber keiner von ihnen wollte weichen. Erst als Raphael darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie ihre jeweiligen Aufgaben als Protektor der Stadt uns seines Territoriums völlig vernachlässigten, waren sie langsam einer nach dem anderen gegangen. Nur Illium war stur geblieben und hatte sich seitdem nicht mehr von Desirées Seite wegbewegt. Noch immer waren mindestens zwei von den Sieben ständig in unmittelbarer Nähe. Keir fand das lächerlich, doch anscheinend hatte er sich in punkto Genesung geirrt.

Rückartig hob Illium den Kopf und war sofort hellwach. Es war heller Morgen und die Sonne ging gerade auf; sie tauchte das ganze Zimmer in warme helle Farben und versprach ein Tag voller Freude zu werden. Die Aussicht wäre ein himmlischer Anblick gewesen, wenn nicht dieser nervige Pips Ton in seinen Ohren gewesen wäre. Man hatte sich einstimmig dafür entschieden Desirée so viel Gemütlichkeit wie möglich zukommen zu lassen, wenn man die ganzen Geräte und Apparate mit in Betracht zog, die sie am Leben hielten. Außerdem war Illium so gut wie die ganze Zeit an ihrer Seite und mindestens noch einer der Sieben war in unmittelbarer Nähe. Raphael hatte zuerst versucht sie zu verstecken- es war gehörig schief gelaufen; jetzt also versuchte man schon fast das Gegenteil. Die ganze Welt sollte sehen, dass sie lebte und in welchem Zustand sie war. Natürlich war vieles davon taktisch geplant. Dimitri wollte das Mitleid der Bevölkerung auch den Zorn, denn genau das war es, was Völker einen konnte- und sie mussten vereint sein, wenn sie gegen den Gegner ankommen wollten, der Desirée solches Leid angetan hatte. Doch auch mit oder ohne Verbündete, für die Sieben und Raphael stand fest, dass man sobald man den Namen der Person kannte, sie bis zum Tod verfolgen würde. Hier gab es nur eines, was als Strafe in Frage kam und das war eine sofortige Hinrichtung. Natürlich wusste man, dass es am Ende Raphael sein würde, der der Volltrecker der Tat sein würde, da die Macht eines Erzengels nun mal am größten war. Doch in solchen Momenten, wie diesen, wünschte sie Illium nichts mehr, als dass sein Körper der Macht der Erzengel standhalten könnte und er selbst derjenigen Person das Ende bereiten könnte.

Hektisch schaute er sich nun um, was den Alarm ausgelöst hatte. Inständig betete er darum, dass es nur ein Fehlalarm war oder ein unwichtiges Signal, das zum Beispiel das Auswechseln des Katheter Beutels forderte. Doch seine Gebete wurden nicht erhört. Es war sein Alptraum, der da schrill, monoton und unaufhaltsam weiter pfiff- die Herztonmaschine zeigte nur noch einen Strich. Gleichmäßig und vollkommen parallel zogen sich die Striche über den Bildschirm, die jeweils irgendeine Funktion des Körpers anzeigten. Er hörte sich selbst schreien, als ganz allmählich die Tatsache in sein Hirn sickerte. „Desirée", flüsterte er. Die junge Frau lag jedoch weiterhin reglos in ihrem Bett. Ihr Haar lag fast wie ein Heiligenschein um sie herum auf dem Kopfkissen, wobei man es kaum erkannte. Das blütenweiß des Kissens und das schneeweiß der haare bildeten kaum einen Kontrast. Man sah hier und da nur das Glitzern von tausend zerbröselten Diamanten. „Desirée, komm schon. Du kannst mich doch nicht alleine lassen", flehte er sie an. Er warf sich zu ihr und schüttelte sie, sodass ihr ganzer Körper zu beben begann. Gott war sie schön. Trotz ihres völligen Untergewichtes, dem verlorenen Augenlicht und der kurzen Haare war sie eine absolute Schönheit geworden. In Illiums Blut begann es zu kochen, als die Augenblicke verstrichen und sie einfach nicht mehr atmen wollte. Das ständige Warten hatte ihn ganz verrückt gemacht, doch jetzt hätte er am liebsten den Rest der Ewigkeit gewartet, wenn sie doch nur atmen würde. Sie musste leben. „Lebe!", schrie er sie voller Verzweiflung, Trauer und Angst an, „Lebe!"

EngelsflügelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt