Kapitel 27

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Hagen rückte näher und das Training wurde somit intensiver. Aber damit stieg auch Livs Nervosität. Denn für das Abschlusstraining am Sonntag hatten sich ihre Mutter und James Barrymore angekündigt.

"Rahm ihn mehr ein. Lass ihn doch vor den Sprüngen nicht so davon schießen!" Claude tanzte wie Rumpelstilzchen über den Springplatz und behielt Liv die ganze Zeit über genauestens im Auge. Diese saß auf Sternentänzer und hatte alle Hände voll zu tun. Denn der Braune war heiß, wie noch nie. Stetig legte er sich aufs Gebiss und forderte einen Kampf mit seiner Reiterin, den er meistens gewann. Liv war mit den Nerven mittlerweile vollkommen am Ende.

"Ich weiß nicht, was los ist. Sonst ist er auch nicht so schwierig", meinte sie den Tränen nahe und parierte Sternentänzer zum Halten durch.
"Das wird schon. Ihr habt bloß einen schlechten Tag erwischt", versuchte Claude ihr Mut zu machen, doch sie wussten beide, dass sie diese schlechte Form schon beinahe die ganze Woche begleitet hatte.

"Das kann doch nicht war sein. Da gibt man sie für zwei Wochen in die Hände eines anderen Trainers und ihre Leistungen sinken so rapide, dass sie nicht einmal mehr einen L Parcours zustande bekommt!" Dorothea Langhoff ging neben der Umzäunung auf und ab. "Das gibt es doch nicht"

Liv biss sich auf die Innenseite ihrer Wange und blickte zu ihrer Mutter und dann wieder zu Claude. James Barrymore stand etwas abseits und beobachtete sie mit Argusaugen. Sein Blick ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Liv würde sich wohl niemals mit ihm anfreunden können.

"Sie sind heute wohl beide mit dem falschen Fuß aufgestanden, denn die restliche Zeit hatte sich Liv mit ihren Pferden von ihrer besten Seite gezeigt. Ihre Tochter hat echt Talent", antwortete Claude seelenruhig und Liv brauchte erst einige Sekunden, um zu realisieren, dass er die Wahrheit zu ihren Gunsten gerade etwas gedreht hatte.

"Hoffen wir mal, dass sie am Mittwoch nicht genau so reitet. Denn sonst können wir alles vergessen", meldete sich nun James Barrymore zu Wort. Er schien Liv förmlich zu durchbohren. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf.

"Natürlich nicht. Liv ist die Favoritin. Ich vergewissere Ihnen, sie wird ihr Bestes geben" Liv verfolgte das Gespräch der Erwachsenen stumm und mit jedem Wort, das sie sprachen, wuchs der Druck, der auf ihren Schultern lastete, um ein Stückchen an. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Sie würde es niemals schaffen. Sie kann es gar nicht schaffen.

Dorothea und James blieben über Nacht und würden dann morgen ebenfalls gleich mit nach Hagen fahren. Die Nacht verging quälend langsam. Liv wälzte sich nervös im Bett hin und her und war noch weit davon entfernt einzuschlafen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es gerade Mal ein Uhr war. In drei Stunden müsste sie schon wieder aufstehen und topfit sein.

Das Mädchen schlug die Decke zur Seite und richtete sich auf. Sie musste hier raus. Schnell zog sie sich einen Pulli über und schlüpfte in ihre abgetragenen Sneaker. Dann öffnete Liv so leise wie möglich ihre Zimmertür und hüpfte auf Zehenspitzen die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Nirgends brannten Lichter, woraus sie schloss, dass niemand mehr wach war. Eilig schloss sie die Haustür hinter sich und trat in die Dunkelheit.

Es war kälter, als sie erwartet hatte und sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. In der rechten hatte sie ihr Smartphone fest umklammert. Dann machte sie sich auf den Weg zu den Stallungen. Die Haupteingänge waren zwar abgeschlossen, aber man konnte über die Paddocks leicht hineinkommen. Somit zwängte sich Liv durch die Gitterstäbe von Jumpers Auslauf und setzte sich schließlich in das Stroh in den Innenraum seiner Box.

Der kleine Palomino wirkte im ersten Moment etwas irritiert und hob argwöhnisch den Kopf, erkannte dann aber seine Reiterin und senkte seinen Kopf wieder, um weiterzudösen. Liv seufzte. Sie war nicht bereit für Hagen, für die Future Champions. Sie war nicht mehr das Mädchen, dass sie einst gewesen war. Ihre Mutter hatte sie für ihren Willen gebrochen und sie hatte ihr immer gehorcht. Doch damit war es nun vorbei.

Ihre Mutter hatte ihr alles genommen.
Ihren Mut.
Die Freude.
Dino.
Ihr Leben.

So konnte es nicht mehr weitergehen. Unwillkürlich rollte eine Träne über Livs Wange. Dennoch war sie zu feige gewesen, mit ihrem Vater zu sprechen. Vielleicht hätte er ihr ja helfen können. Sie hatte sich nicht getraut die Stimme gegen ihre Mutter zu erheben, stattdessen war sie hierher, in die Schweiz zu einem Mädchen, das sie kaum kannte, geflüchtet. Sie hatte all ihre Probleme dem Bruder des Jungens, in den sie verliebt war, anvertraut, nicht ihm. Sie hatte Angst vor sich selbst gehabt.

Livs Hände zitterten, als sie Vincents Nummer wählte. Sie musste mit jemandem reden. Jetzt. Sofort. Doch, wie es zu erwarten war, nahm er nicht ab. Bestimmt schläft er, dachte sich Liv und fand somit eine plausible Lösung. Sie versuchte es zunächst bei François, doch auch bei diesem sprang die Mailbox an.

Liv scrollte ihre Kontakte nach unten und musste mit Bedauern feststellen, dass diese List ziemlich lang war. Die meisten waren Nummern von irgendwelchen Reitern, zu denen sie im Laufe der Jahre Kontakt geknüpft hatte. Handynummern von Freunden waren allerdings Mangelware.

Doch ein Name stieß ihr sofort ins Auge und ihr Finger schwebte für einen Moment darüber. Thomas Langhoff. Liv hatte seine Nummer in ihrem Handy eingespeichert, im Falle dessen, dass sie sich doch noch dazu besann, ihn anzurufen. Doch dafür war es nun viel zu spät.

Sie fuhr über die Kette, die ihre Mutter ihr einst geschenkt hatte. Wieso war alles in Livs Leben so verkorkst? Wieso konnte sie kein normales Leben führen. In die Schule gehen, dort mit den Freunden schwatzen, nach Hause kommen und lernen und vielleicht noch nebenbei einen Sport ausüben, bei dem sie einmal in der Woche Training hatte.

Nein, sie hatte einen anderen Weg gewählt. Liv war Springreiterin und das bedeutete, dass sie sich jeden Tag auf den Rücken ihrer besten Freunde wagte, in halsbrecherische Tempo Hindernisse, so groß wie Häuser, überwand, an den Wochenenden auf Turnieren startete, Schleifen mit nach Hause brachte, über Siege jubelte, dass die Schule eher im Hintergrund stand, dass Pferde kommen und gingen und dass da für immer ein Pferd in ihrem Herzen sein wird, dass sie nie vergessen wird.

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