[1] Freiheit

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Ich weiß... ein 16-jähriges Mädchen sollte um 2 Uhr nachts nicht unbedingt alleine durch dunkle Straßen rennen, aber ich muss meine letzte Nacht in Freiheit doch genießen. Schließlich habe ich mich gerade von meinem Freund getrennt. Damian. Mit dem ich nur zusammen war, weil meine Eltern es wollten. Als Lohn dafür, dass ich mit dem Kontrollfreak in Person eine Beziehung führte, durfte ich wie jedes normale Mädchen in meinem Alter und wie mein verhasster Zwillingsbruder auch, feiern gehen. Bei meinen Eltern war mein Bruder natürlich nicht verhasst, aber ich hasste ihn. Er durfte alles, was ich nie durfte und nie dürfen würde.

Ich kam gerade von einer Party und war dementsprechend freizügig gekleidet. Mum und Dad waren nicht zu Hause gewesen und konnten mir so nicht vorschreiben, was ich anzuziehen hatte. Ich hatte die Party vorzeitig verlassen, weil ich mich wie gesagt endlich von Damian getrennt hatte und jetzt meine letzten Atemzüge in Freiheit genoss. Damian hatte auf der Party an mir geklebt wie ein zähes altes Kaugummi. Ich durfte nicht tanzen, mich kaum unterhalten und "bloß kein Schluck Alkohol trinken". Eigentlich mochte ich Alkohol sowieso nicht, aber ich wollte ihn trinken. Nur um meinen Eltern und Damian zu zeigen, dass ich rebellierte, aber ich hatte gar keine Chance zu rebellieren.

Jetzt laufe ich also durch die dunklen Gassen und Straßen und genieße meine wiedergewonnene Freiheit, die ich verlieren würde sobald ich nach Hause kam. Meine Eltern waren streng religiös und da sie bei meinem Bruder mit der Erziehung schon jetzt versagt hatten, wurde ich noch strenger erzogen.

Ich ging durch die finstere Einkaufsstraße. Düstere Einkaufsfenster und Kleiderpuppen starrten mir entgegen. Irgendwie war es schon gruselig.... Ich bog rechts ab. Um nach Hause zu gelangen müsste ich links abbiegen. Die Straße wurde, so wie die Einkaufsstraße eben, nur von flackernden Straßenlaternen erhellt. 1 Mal Flackern. 2 Mal Flackern. 3 Mal Fla - Licht aus. Shit!... Jetzt konnte ich gar nichts mehr sehen. Nur noch leichte Umrisse waren zu erkennen. Na klasse... auf wackeligen Beinen ging ich weiter durch die stockfinstere Straße. Erst jetzt fiel mir auf, dass es für Sommer schon ziemlich kalt war. Ich wünschte mir, ich hätte ausnahmsweise mal auf Damian gehört und hätte mir wenigstens eine Strickjacke mitgenommen. Nein! Das kam gar nicht in Frage! Ich hatte alles getan, außer auf ihn zu hören. Auch wenn er die einzige Beratung war, die ich hatte. Ich hatte keine Freundinnen, die mich in Sachen Kleidung beraten konnten. Wie denn auch?! Auf Partys durfte ich mit kaum jemandem reden und in die Schule ging ich nicht. Ich wurde  zu Hause unterrichtet. Von einem üblen Hauslehrer. Mein Bruder durfte mittlerweile sogar zur Schule gehen, aber ich?! Nein... warum denn auch?! Es könnte ja wichtig sein soziale Kontakte zu knüpfen... und weil ich kein anderes Hobby außer erzwungenes Geige spielen hatte, verbrachte ich die meiste Zeit allein zu Haus. Ohne Freunde. Ich hatte in meinem Leben noch nie auch nur ein bisschen Liebe erfahren. Keine Freunde, Eltern, denen es nur um Erziehung ging, Großeltern, die man nur am Weihnachtsfest sah, einen Freund, der dafür bezahlt wurde auf mich aufzupassen, und einen Bruder, der mich hasste und den ich hasste. Das war auch ungefähr das einzige was wir gemeinsam hatten. Immerhin darin waren wir uns einig. In allem anderen unterschieden wir uns: begonnen bei Name und Geschlecht bis hin zur liebsten Süßigkeit. Wir waren, obwohl wir Zwillinge waren, von grundauf verschieden.

Die Straßenlaternen flackerten wieder auf, danach hatten sie ihr gewohntes Flackern wieder gefunden. Endlich konnte ich wieder etwas sehen.

Ich lief weiter durch die spärlich beleuchtete Straße und begegnete keiner Menschenseele. Es war nichts außer dem Geräusch meiner Schritte auf dem Kopfsteinpflaster zu hören. Nichts. Es war mucksmäuschenstill. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Nur war es keine Stecknadel, die ich fallen hörte, sondern das Geräusch, was ich nun hörte, klang wie Schritte. Ich sah mich um. Nichts und Niemand zu sehen. Also ging ich weiter, da vibrierte plötzlich mein Handy. Man, hatte ich mich erschreckt! Ich holte es aus der Hosentasche meiner kurzen Shorts. 10 verpasste Anrufe meiner Mum und einen von meinem Bruder Luke. Ich verdrehte genervt die Augen. Auch eine Nachricht auf meiner Mailbox hatte er hinterlassen. Während ich weiterging hörte ich mir diese an: "Boah ey Ginny! Wo bist du?!", hatte er wütend begonnen ins Mikro zu schreien, "Ich musste wegen dir die Party abbrechen! Warum verdammt nochmal hast du dich von Damian getrennt!?! Hast du mal an die Folgen für mich gedacht?!" "Dieser mistige blöde Egoist! Selbstsüchtiger Partyfreak!", dachte ich mir, schaltete mein Handy aus und steckte es zurück in meine Hosentasche. Ich zuckte zusammen. Warum musste ich bloß so schreckhaft sein?! Da stand doch nur jemand am Straßenrand! Meine Güte, ey! Okay... dieser jemand sah ziemlich finster aus. Das flackernde Licht der Straßenlaterne warf dunkle Schatten auf sein kantiges Gesicht und er stand stocksteif da. Nur seine Augen schienen sich zu bewegen, während er mir hinterher schaute. Hatte der noch nie ein Mädchen in Hotpants und sehr freizügigem Top gesehen?! Doch plötzlich hörte ich ein Knacken hinter mir. Ein Knacken, wie ich es aus den vielen Krimiserien meines Bruders kannte. Das Knacken, das ertönt, wenn eine Waffe geladen wird.

"Bleibe ich jetzt stehen oder laufe ich weg?!", dachte ich und drückte instinktiv meine kleine Handtasche dichter an meinen Körper und ging einen Schritt schneller.

"Stehen bleiben!", forderte nun eine tiefe Stimme, die mich erschaudern ließ. Sofort blieb ich stehen. "Bist du nicht die Schwester von Luke?", ich hörte wie er langsam dichter kam. Panik überkam mich und ich brachte kein Wort über die Lippen. Normalerweise war ich vorlaut und schlagfertig, aber jetzt?! Ich konnte froh sein, dass ich nicht schon vor Panik angefangen hatte zu schreien. "Ich habe dir eine Frage gestellt, Süße", säuselte der Fremde nun. Er musste kaum älter sein als ich und war definitiv betrunken. "Ja! Ja ich bin seine Schwester", sagte ich mit zittriger Stimme und biss mir aus Angst auf die Unterlippe. Der Typ zog scharf die Luft ein. "Dassss hättest du liber nich sagen solln", murmelte er weiter. Er stand jetzt genau hinter mir. Ich konnte seinen nach Alkohol stinkenden Atem schon riechen. Mir wurde schlecht. "Er schuldet mir noch was...", fuhr der Betrunkene fort und ich spürte plötzlich Etwas hartes zwischen meinen Schulterblättern. Die Waffe... ich kniff die Augen zusammen. "Was willst du...?", brachte ich nun zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Lass uns daraus ein kleines Spiel machen...", säuselte er und lachte dreckig.

"Nein...", dachte ich, "Nein... bitte nicht!"

"Wie Nein?!", fragte der Fremde.

Hatte ich etwa gerade laut gedacht?!

"Aber Babe... ich will dir doch nicht weh tun müssen...", säuselte er, strich mir mit einem Finger über die Schulter und erhöhte gleichzeitig den Druck der Waffe zwischen meinen Schulterblättern. Mein Herz drohte meine Rippen zu zerbrechen, so doll schlug es. Panik schnürte mir die Kehle zu.

"Wir fangen mit deinem Handy an..."

"Das ist kaputt!", sagte ich, wie auf Kommando. Er konnte mir alles nehmen, außer mein Handy. Das würde mein letztes Stück Freiheit sein, wenn ich nach Hause kommen würde.

"Komisch...", murmelte er, "und was ist dann DAS?!" Er zog mein Handy aus meiner Hosentasche heraus und schubste mich wütend von sich weg. Ich stolperte und fiel auf das harte Kopfsteinpflaster. Panisch drehte ich mich um, sodass ich saß, und beobachtete ihn dabei, wie er mein Handy anschaltete.

"Und nun deine Tasche!", forderte er, als mein Handy angegangen war. Meine Tasche?! Ist der wahnsinnig?! Da ist meine Kreditkarte, mein Ausweis,... einfach alles ist da drin.

"Sie wird dir gar nichts geben, Jason!", sagte eine zweite männliche Stimme von hinter ihm. Ich kannte die Stimme nicht und auch konnte ich niemanden sehen, da dieser Zweite noch nicht im Lichtkegel der Straßenlaterne stand.

"Wer sagt das?!", antwortete der Erste gereizt.

"Ihr Freund", sagte der zweite Fremde. Was?! Ich runzelte die Stirn. Wer würde sich freiwillig als mein Freund bezeichnen. Selbst Damian wurde dafür von meinen Eltern bezahlt.

"Sie hat keinen Freund!", lachte der Erste.

"Woher willst du das wissen?!"

"Weil ich eben gehört habe, wie sich jemand darüber aufgeregt hat, das sie sich von ihrem Freund getrennt hat!"

"Dann bin ich eben ihr Bodyguard!"

My personal BodyguardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt