[8] Deal

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Habe ich mich gerade verguckt? Hat mein Bruder, der immer gefühllos und kalt scheint, gerade vor meinen Augen einen Jungen geküsst? Er ist schwul? Warum weiß ich nichts davon?! Warum hat er nie etwas gesagt? Also zumindest zu mir? Das meine Eltern davon weniger begeistert wären kann man sich ja denken, warum redet er nicht mit seiner Zwillingsschwester?

"Sehen wir uns morgen?", die Stimme von Clarke, dem Freund meines Bruders, riss mich aus meinen Gedanken. Meine Bruder nickte als Antwort und küsste ihn nochmal. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Leider vergaß ich, dass ich mich immer noch vor den beiden versteckt hielt und kam langsam hinter dem bewachsenen und schutzbietenden Zaun hoch. Die Hand hielt ich mir vor den Mund. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich hatte nicht gedacht, dass mein Bruder überhaupt in der Lage war, sein Herz zu benutzen, aber anscheinend hatte ich mich mein ganzes Leben lang getäuscht. Ich schaute weiterhin meinem Bruder zu und vernahm nur im Augenwinkel, wie mein Bodyguard wild mit den Händen fuchtelte und mir wohl klar machen wollte, dass ich mich wieder verstecken sollte. Doch da war es schon zu spät. Bei der Abschiedsumarmung der beiden hatte Clarke mich entdeckt und jetzt zeigte er mit dem Finger auf mich. Sofort drehte Luke sich um.

"Ginny?!", er wirkte überrascht und geschockt mich hier zu sehen, doch als er bemerkte, dass ich jetzt von seinem kleinen dunklen Geheimnis wusste, mischte sich Wut mit in seine Mimik. "Was zum Henker machst du hier draußen?!!", presste er wütend zwischen zusammengebissen Zähnen hervor. "Ich... du... Dasselbe könnte ich dich fragen", mit diesen Worten trat auch ich auf die Straße, vor den Gartenzaun. Ich sah meinem Bruder an wie ihm die Wut ins Gesicht stieg. Er packte mich am Kragen meines viel zu großen Schlafanzugoberteils und drückte mich an den Gartenzaun. Ich spürte den kalten metallenen Zaun an der Rückseite meiner Beine. "Wenn du darüber auch nur ein Wort zu Mom und Dad sagst, dann schwöre ich dir, mache ich dir dein Leben zur Hölle!", man konnte seine Wut nahezu in der Luft spüren. Er starrte mich aggressiv an, wie ein wütender Stier, wie ein Löwe, der kurz davor ist, sein gegenüber in tausende Stücke zu zerreißen. Wäre ich nicht seine Schwester, hätte er mich wahrscheinlich jetzt umgebracht.

Es war mein Bodyguard, der die Stille brach, weil die Wut meines Bruders mir die Sprache verschlagen hatte. Er trat aus dem Schatten heraus zu uns in den Lichtkegel der Laterne und fuhr sich mit der Hand durch seine wuscheligen braunen Haare. "Lass sie sofort los, Luke!", forderte er und riss die komplette Aufmerksamkeit auf sich. Die Wut meines Bruders und ich hätte nicht gedacht, dass es möglich wäre, wurde noch größer und er spannte sich noch mehr an.

"Oliver."

Dass war alles, was mein Bruder sagte, ehe er mich los ließ und sich meinem Bodyguard zuwandte.

"Luke."

Erwiderte mein Bodyguard.

Danach griff Luke unter seine Lederjacke und zog eine Waffe hervor. Ich zog geschockt die Luft ein. Er hatte eine Waffe? Warum kannte ich meinen Bruder so schlecht?! Er richtete die Waffe auf Oliver.

"Warum beschützt du ein Mädchen, dass du nicht kennst?!", zischte Luke wütend. Clarke, der hinter ihm stand, hielt sich aus dem Geschehen voll und ganz raus, hatte aber ebenfalls eine Waffe in der Hand.

"Weil ich sie eben kenne." Oliver schien seelenruhig, doch ich wusste wie angespannt er war.

"Du...", man hörte den abgrundtiefen Hass in seiner Stimme, "Du bist der Kerl, der meine Schwester geküsst hat."

Oliver nickte, doch dass er das Ganze nur noch schlimmer machte, hatte er wohl nicht gewusst. Mein Bruder machte einen Schritt auf ihn zu und schlug Oliver mit voller Wucht mit der Waffe ins Gesicht. Oliver taumelte zur Seite und hielt sich die nun etwas blutende Wange. Ich musste einen Aufschrei unterdrücken und legte die paar Meter bis zu ihm wie mit Blitzgeschwindigkeit zurück. "Ist alles okay, Olly?", fragte ich und legte meine Hand auf seine in seinem Gesicht. Er sah mich an und als ich seinen Spitznamen aussprach schienen seine Augen zu strahlen. Er lächelte: "Ja klar."

"Ginny, geh weg von ihm!", forderte mein Bruder wütend. "Nein!", ich drehte mich zu ihm um und sah ihn entschlossen an. "Er hat dich angefasst, Ginny. Er hat meine verletzliche Prinzessin angefasst!", die Wut in seiner Stimme über die simplen, mir alles bedeutenden, Küsse traf mich wie eine Backpfeife oder einen Schlag in die Magengrube. Eine unangenehme Spannung lag in der Luft. Luke hielt die Waffe immer noch auf Olly gerichtet. "Geh. Aus. Dem. Weg.", forderte mein Bruder erneut. "Luke... das ist meine Entscheidung! Wir können uns jetzt alle mal beruhigen, bevor unsere Elt-" Er unterbrach mich: "Du kennst diesen Kerl doch noch nicht einmal!" Die Waffe in seiner Hand zitterte und die Wut trieb ihm die Tränen in die Augen. Die Wut oder eine Erinnerung?!

"Luke, ich werde niemandem ein Wort verraten", sagte Olly nun und brachte meinen Bruder völlig aus der Fassung. "Das hast du schon mal gesagt!", spuckte er uns nahezu entgegen.

"Ich habe auch damals niemandem ein Wort gesagt."

"Und woher wusste Jason es dann?!"

"Ich habe keine Ahnung. Ich habe dicht gehalten."

"Das glaube ich dir nicht! Du weißt genau wie sehr der Boss damals Schwule gehasst hat! Jason hat mir so sehr weh getan! Ich habe immer noch die Narben am Rücken! Er hat mich fast umgebracht! Ich konnte ganze zwei Wochen nicht nach Hause, weil meine Eltern was gemerkt hätten!"

Dieses Geständnis meines Bruders trieb mir die Tränen in die Augen. Ich vertand zwar bloß die Hälfte, aber ich hatte meinen Bruder noch nie so verletzlich gesehen. Nur zu gut konnte ich mich daran erinnern, wie Luke zwei wochenlang nicht nach Hause gekommen war. Das musste keine zwei Jahre her sein. Ich wollte jetzt einfach zu ihm gehen und ihn umarmen, aber zwischen uns stand so viel mehr als nur die Waffe, die er immer noch auf Olly und mich gerichtet hielt.

"Ich weiß. Und ich weiß auch wie deine Narben aussehen. In etwa so wie diese hier." Daraufhin drehte Olly uns den Rücken zu und hob sein T-Shirt an. Zum Vorschein kam sein vernarbter Rücken.

Als er sich wieder zu uns umdrehte, war ich am Weinen. Wie konnte man einem Menschen so etwas antun? Bevor er weiter sprach, schloss Olly mich in seine Arme und erzählte dann mit gedämpfter Stimme: "Als Jason erfuhr, dass ich davon wusste, aber nichts gesagt habe, hat er mich genauso behandelt, wie dich, Luke. Auch mich hat das Ganze verletzt. Ich habe dich nie verraten."

Danach herrschte einen Augenblick Stille. Keiner von uns traute sich etwas zu sagen.

Clarke war der erste, der sich bewegte. Er steckte seine Waffe weg, ging zu Luke und drückte seinen Arm nach unten, sodass die Waffe nicht länger auf uns gerichtet war. Luke verstand und steckte ebenfalls die Waffe weg. Ohne zu zögern nahm Clarke Lukes nun freie Hand, verschränkte die Finger und kam auf mich zu. "Hallo, ich bin Clarke, Lukes Freund. Du musst seine Schwester Ginny sein", sagte er freundlich und hielt mir seine Hand hin. Lächelnd nahm ich an: "Die bin ich. Clarke, Luke, darf ich vorstellen? Das ist mein Freund Oliver." Ich musste Olly nicht ansehen um zu wissen, wie stolz er gerade grinste.

"Ginny? Keiner von uns verrät Mom und Dad etwas, Deal?"

"Deal. Und wir helfen einander in Zukunft, Deal?"

"Deal. Du kannst auf mich zählen."

Daraufhin erfolgte die erste Umarmung meines Bruder und mir seit Jahren. Er umarmte mich voller Liebe und Vertrauen, wie man nur seine Schwester umarmen kann.

My personal BodyguardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt