1 Kapitel

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Wie soll ich es ihm bloss sagen?
"Ich ähm...", stotterte ich.
"Ja, Severin? Was willst du mir nun sagen?", fragte mein Stiefvater Adrian auffordernd. "Ich... Ich möchte die Schule schmeissen", beichtete ich. Endlich war es raus! Diesen Entschluss hatte ich schon vor langer Zeit gefällt. Endlich war ich frei! Ja, der Freiheit wegen tat ich dies. Ich wollte frei sein, nicht den ganzen Tag in der Schule sitzen und dem Lehrer zuhören, welcher mit seiner penetranten, aufdringlichen Art versuchte, uns desinteressierten Schülern den langweiligen Lernstoff einzutrichtern. Bei den meisten zum lernen Verdammten, unter anderem auch bei mir brachte das nichts. Das einzige was ich hörte war Metal und so, sicher kein Lehrergefasel. Durch meine betonierte schwarze Emomatte drang allerdings auch kein einziger Ton, natürlich ausser ich wollte es so.

Eine wohlplatzierte Ohrfeige holte mich aus meinen Gedanken und brachte meinen Kopf zum dröhnen. Einige Sekunden hörte ich ein penetrantes Piepsen in meinem linken Ohr.
"Hallo? Severin? Hör mir zu!" Adrian war es also gewesen. Erneut. Ein weiteres Mal. Schon seit er mit meiner Mutter Alexandra zusammen war schlug er mich. Warum? Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht weil ich dumm bin? Weil ich oft in Gedanken versinke? Weil ich nicht so bin wie er es gern hätte? Weil ich nicht so perfekt bin wie meine kleine Schwester Juliana?

"Wie oft noch, Severin! Hör mir gefälligst zu! Du wirst auf keinen Fall die zehnte Klasse schmeissen. Wir haben dir doch gesagt, du machst die zehnte und gehst dann aufs Gymnasium um dein Abi zu machen..." Wenn ich ihn jetzt nicht unterbrach würde er, das wusste ich aus Erfahrung, nie wieder aufhören zu reden, dann irgendwann ausrasten und mich verprügeln. "Nein. Adrian, ich habe zu entscheiden was ich mache. Ich werde heute fucking siebzehn und bin nun genug alt um selbst zu entscheiden. Bitte, bitte lass mich nur ein einziges Mal etwas selbst entscheiden! Du, vor allem du darfst mir gar nichts befehlen. Du bist nicht mein Vater. Ich weiss, du wirst mich gleich..." Ein Box in die Magengrube unterbrach mich. ...schlagen... dachte ich den Satz zu Ende. Warum? Ich fragte mich das so oft. Gerade weil heute mein siebzehnter Geburtstag war, dachte ich nicht, dass er es wagen würde. Doch ich hatte mich getäuscht. Ich hatte mich gewaltig getäuscht als ich an ein letztes bisschen Menschlichkeit in ihm glaubte.

"Was ist hier los? Adrian, was hat der Junge angestellt?", fragte die warme, vertraute Stimme meiner Mutter.
Sogar sie verletzt mich. Sie sprach nicht mit mir, nannte mich nie beim Namen... Warum, das fragte ich mich auch oft wenn ich an sie dachte.

"Er will die Schule schmeissen. Was denkt der Bengel sich? Da sieht man mal wieder, Kinder sind Abschaum. Sie haben nur Nachteile. Sie machen Arbeit und leisten nichts. Als ich ein Kind war, das waren noch Zeiten. Ich habe immer, absolut immer getan, was man von mir verlangte..." Er begann zu erzählen, redete zum Glück nicht mehr mit mir, sondern mit Alexandra. Mutter oder Mami nannte ich sie schon lange nicht mehr. Sie war immer, aber wirklich immer auf seiner Seite.
Nichts als Ja sagen kann sie. Warum? Sie arbeitet den ganzen Tag, damit wir Geld haben, während er zu Hause auf der Couch Chips frisst oder sich in seiner Lieblingskneipe betrinkt! Erkennt sie nicht, was für ein fauler Kerl er ist? Stört es sie nicht, wenn sein ekliger Bierbauch immer grösser wird, sein langer grauer Bart und die langen grauen Haare gelb wurden, weil er sie nie wusch? Immer verteidigt sie ihn... Auch hier fragte ich mich nur: Warum? Warum?

Die Türklingel riss mich aus meinen Gedanken. Ein Tagträumer wie ich wird öfters aus den Gedanken gerissen, so langsam gewöhnte ich mich sogar daran.

Ein erneutes Klingeln erinnerte mich an meine Aufgabe. Denn wenn schon mal jemand bei uns klingelt, dann war es zu hundert Prozent für mich.
Ich stürmte voller Freude zur Tür, denn ich hatte eine Vermutung, wer das sein könnte. Nachdem ich die Pforte schwungvoll geöffnet, meine Hypothese bestätigt und meinen besten Freund begrüsst hatte, rief ich nur ein kurzes "bin mit Pete am Geburtstag feiern" in die Wohnung meiner Erziehungsberechtigten. "Wir gehen also feiern, ja? Toll, dass du dran gedacht hast! Du hättest ne Überraschung hast du gesagt? Wie cool!" Was es wohl ist? Es nahm mich schon ziemlich Wunder, vor allem weil er nichts bei sich trug.
"Jaa, die Überraschung hat mich ziemlich viel gekostet, aber du bist mein bester Freund, da ist das in Ordnung." Ich blickte ihm in seine braunen Augen. Mein Blick wanderte nach oben wo sich, heute mal in grün und zu Stacheln geformt, seine Haare tummelten. Er war ein Punk, ich ein Emo, doch obwohl die Szenen ziemlich unterschiedlich sind, wir verstanden uns glänzend.
Wir liefen mit schnellen Schritten in Richtung U-Bahn. Meine Erziehungsberechtigten, ja ich nenne sie nicht Eltern, wohnten nicht weit von der U-Bahnstation Bärenschanze. Wir fuhren mit der U1 zum Plärrer, stiegen in die U2, und erreichten so in wenigen Minuten St. Leonhard. Seine Wohngegend war eigentlich sehr schön, wenn man von den dem Randalismus zum Opfer gefallenen, darum zerstörten Objekten absah. St. Leonhard gilt als das Assiviertel in Nürnberg, was vielleicht daher kommt, dass es dort die meisten Drogentoten der ganzen Stadt gibt. Randalismus, Schlägereien, Gangs, das ganze Programm. In der Nacht ist es Selbstmord, dort durch die Strassen zu laufen. Man kann ja nie wissen, ob hinter der nächsten Ecke einer mit Knarre wartet. Wohin die Leiche verschwindet? Niemand weiss es.

Eben dort gab es einen kleinen Park, wo wir uns oft zum rauchen hinsetzten und über dies und das redeten. Auch wenn ich mich aus berechtigten Gründen nicht ganz wohlfühlte, ich ging mit. Das Gefühl beobachtet zu werden kennt doch jeder irgendwoher. So lief ich, wie schon so oft, mit gesenktem Blick und Kapuze auf dem Kopf hinter meinem Kollegen her. Da ich ihm so auf die Schuhe starren musste, bemerkte ich auch das gewisse etwas in seinem linken Schuh. Da guckte nämlich ein Tütchen raus.
Ich in meiner Naivität und Unerfahrenheit dachte nichts Böses und ging einfach weiter hinter ihm her. Warum hatte ich es nicht erkannt? Nun gut, ich hatte noch nie Kontakt mit Drogen, aber trotzdem hätte ich es mir denken können...

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