3 Kapitel

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Mitternacht. Die Pendeluhr in der Küche schlug zwölf Uhr. Nun war es Zeit zu gehen. "Pass auf dich auf Juliana, meine Kleine."Ich mochte sie zwar nicht besonders und sie war warscheinlich froh dass ich gehen musste, aber ich brachte es trotzdem nicht übers Herz, sie ohne abschließende Worte zu verlassen.
Als ich mich zu Alexandra wandte, schritt sie plötzlich auf mich zu. "Alexandra, ich..." - weiter kam ich nicht, denn entgegen meiner Erwartung schloss sie mich plötzlich in ihre Arme. Erst mal völlig überrumpelt stand ich einige Sekunden einfach nur da. Was hatte sie wohl bewegt, das zu tun? Ich hatte keine Ahnung. Nun, da ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, legte ich meine Hand auf ihren Rücken. "So, nun ists aber genug! Severin, komm."

"Warte mal Adrian. Der Junge hat etwas vergessen. Ich hole es für ihn." Alexandras dünne Stimme klang ungewohnt sicher. Was hatte sie vor? Ich war mir hundert Prozent sicher, alles eingepackt zu haben.
"Hier. Das lag noch in deinem Zimmer." Sie übergab mir eine kleine Tasche. Ich wusste dass sie log, ich hatte alles doppelt kontrolliert. Diese Tasche hatte ganz sicher nichts drin, was mir gehörte. Was war das nur?

Adrian begleitete mich noch hinunter zur Tür, sodass er mir nochmal einschärfen konnte, was für ein schlimmer Junge ich doch sei. "So, und nun lass dich hier nie wieder blicken. Wenn ich dich auch nur einmal zu Gesicht bekomme, oder du Kontakt mit meiner Familie hast, werde ich nicht mehr so sanft und schonend zuschlagen wie bisher. Oh, und ich weiss, dass diese Tasche nicht dir gehört. Für diese Hilfe wird Alexandra sich nachher rechtfertigen müssen. So, und nun husch! Hau ab! Bevor ich noch die Lust verspüre dich ein letztes Mal zu schlagen!"

Ich machte dass ich davonkam. Erst mal ab zur U-Bahn Station.

Als ich mich dann dort auf einen der Bänke setzte, kramte ich erst mal die Tasche hervor, welche Alexandra mir gegeben hatte. Da drin war ein Umschlag, etwas kleines zu essen und zu trinken. Da ich nicht gerade hungrig oder durstig war, steckte ich das beides wieder ein. Den Umschlag nahm ich etwas genauer unter die Lupe. Außen drauf war nichts geschrieben, also öffnete ich ihn und kippte den Inhalt in meine Hand. Es waren Scheine. Viele Scheine. Warum hatte sie mir so viel Geld gegeben? Hmm... An Geld hatte ich in meiner Eile gar nicht gedacht. Ich hatte auch gar kein eigenes. Darum also, damit ich mir was zu essen und zu trinken kaufen konnte! Ich zählte es nach... fünfzig, hundert, zweihundert, fünfhundert, siebenhundert Euro! Damit kam ich ja Monatelang durch!

Erstmals, seit das ganze Desaster begonnen hatte, fragte ich mich, wie ich eigentlich jetzt eine Ausbildung finden sollte. Ohne festen Wohnsitz konnte ich das wohl vergessen - einen Job ebenfalls. Denn nimand stellt einen Obdachlosen ein. Eine Wohnung konnte ich auch nicht finden, da siebenhundert nicht mal für ne Bruchbude reichen würden. Das hieß für mich: Strasse. Und zwar auf unbestimmte Zeit.

Ach scheisse! Warum?! Ich begann, alle möglichen Schimpfwörter vor mich hin zu murmeln. Irgendwann fiel mir keins mehr ein, und ich hob meinen Blick vom Boden. Vor mir stand ein komisch gekleideter Junge. Ein Goth? Warscheinlich. "Dir muss es ja furchtbar gehen, wenn du so viele Schimpfwörter sagst. Alles gut bei dir?",fragte er freundlich lächelnd.

Ich brummte irgendetwas unnverständliches, weshalb er mich schief ansah. Ich sah ihm in seine Augen, welche ganz weiss waren. Kontaktlinsen? Auf jeden Fall. Seine Haare hatten die selbe Farbe wie meine, schwarz. "Bin grade auf der Straße gelandet, und zwar für unbestimmte Zeit.", erzählte ich, damit ich ihn loswerde. Doch anscheinend wollte er mich in ein Gespräch verwickeln. "Und warum?", fragte er weiter. "Sie haben mich rausgeschmissen. Also meine Mutter und mein Stiefvater. Weil ich mit drei Gramm erwischt wurde, die ich eigentlich gar nicht haben wollte. Ich bin einfach Opfer der Umstände geworden..." Gab er jetzt endlich Ruhe? Nein, anscheinend nicht, denn er nervte mich weiter mit seiner Neugier. "Oh, das tut mir aber Leid... Kann ich dir vielleicht helfen?" "Nee, passt schon, ich komme klar." Hoffentlich kapierte er jetzt, dass ich gerade allein sein wollte. "Du willst gerade einfach nur allein sein, oder? Das kenn ich nur zu gut. Ich übernachte manchmal einfach so auf der Strasse, weil ich keinen Bock auf meine Familie hab. Ich bleibe dann einfach an der Ost oder an der Wö... Du kannst ja mal mitkommen, dann zeig ich dir das."

Oh Gott, konnte der Junge nicht einfach seine Schnauze halten? Er redete etwas zu viel für meinen Geschmack. Ließ er mich jetzt endlich in Ruhe? Nein. Nun setzte er sich auch noch zu mir hin. Was soll das? Nun sah er mich an. "Es macht dir doch sicher nichts aus wenn ich mich zu dir setze, oder?" Nein, natürlich nicht. Ich kenne dich ja schon so verdammt lange Zeit und wir sind so was von beste Freunde... Nicht. Definitiv nicht. "Eeh...", sagte ich also, nicht ganz sicher ob ich ihn jetzt abweisen sollte. Er griff in seine grossen Manteltaschen und holte eine Zigarettenschachtel hervor. "Auch eine?" Der Kerl schien sich wirklich mit mir anfreunden zu wollen...
"Ehh... ja, gern" Als ich mein Feuerzeug holte, merkte ich, dass meine eigene Schachtel ungewohnt leicht war. Sie würde wohl bald leer sein. Ich glaubte nicht, dass wenn ich weiter so viel rauchen würde -die Schachtel hatte ich erst vorgestern gekauft- das Geld lange reichen wird. Ich werde wohl aufhören müssen.
Als ich meine Schachtel hervor nahm, um mir den Rest einzuteilen, steckte er mir seine noch fast volle Schachtel mit einem zwinkern zu. "Du hast wohl kein Geld für neue, dann helf ich dir doch gern aus..." Ich schaute ihn verwundert an.
"Wollen wir gleich morgen zur Ost gehen? Oder nee warte, morgen kann ich nicht. Übermorgen is besser." Er erhob sich, noch immer rauchend, wieder von seinem Sitzplatz. "Ich werde dich dann mal nicht weiter belästigen. Sonst nerv ich dich ja noch...", sagte er lachend. Nun lief er also davon, der eigentlich ganz nette Junge. "Warte mal!", rief ich ihm hinterher. Er drehte sich um. "Was ist, Kleiner?" "Meinst du das ernst? Also dass du mich mitnimmst?",fragte ich vorsichtig. "Ja natürlich, was denkst du denn! Klar nehme ich dich mit!", schon wieder lachte er "Und jetzt habe ich noch eine Frage, Kleiner. Wie ist denn dein eigentlich dein Name?" "Sevi. Und wie ist deiner, wenn man fragen darf?" "Das kommt von Severin, nicht wahr? Ich heisse Joni."

Joni sollte es also sein, der mir die Hoffnung auf neue Leute bringt. Irgendwie fand ich ihn nun gar nicht mehr so nervig. Wie schnell einem jemand sympathisch werden konnte... "Also dann, übermorgen hier? Hast du dann keine Schule?", fragte ich Joni. "Nee, hab vor kurzem die Schule geschmissen. Hatte keinen Bock mehr auf diese Scheisse. Ich meine, wer will schon sein ganzes Leben einfach nur in dieser gottverdammten Schule sitzen? Das ist doch einfach nur lächerlich! Soll doch zur Schule gehen wer will, der Rest soll zu Hause bleiben dürfen!", fluchte er. "Hey, mir gehts genau so. Wollte auch die Schule schmeissen. Aber irgendwie hab ich seitdem  dem nur noch Pech. Eigentlich hat es mir sogar den ganzen Geburtstag versaut...", erzählte ich. "Du hattest Geburtstag? Alter, du Pechvogel. Weisst du was? Wir werden an der Ost nachfeiern. Wie alt wurdest du?" "Siebzehn, am siebten Mai... Aber bitte nicht feiern, denn genau wegen so einer Sache bin ich hier gelandet." Panisch, mit den Händen fuchtelnd, versuchte ich ihm diese Idee auszutreiben. Doch es war zu spät. Er schien in Gedanken bereits Leute einzuladen und Einkaufslisten zu schreiben. "Aber warum nicht, chill mal, Alter! Wird schon schief gehen..." "Ach ich weiss nicht..." Mir war  echt nicht wohl bei der Sache, schließlich kannte ich all diese Leute nicht.

"Na gut, wenn du unbedingt möchtest können wir ja feiern. Schlimmer als jetzt kanns ja nicht werden.", willigte ich schliesslich ein.
"Also gut, bis übermorgen dann...", sagte Joni zum Abschied, bevor er lässig seine Kippe wegschnippte und weg von den Gleisen in die Richtung ging, wo die Bushaltestelle für den Nightliner war.
Es war Donnerstag, drei Uhr Morgens, als ich beschloss, dass ich nun erstmal etwas Schlaf vertragen könnte. Es wird mir alles gestohlen werden, wenn ich es nicht verstecke. Ich werde nicht in Ruhe schlafen können, wenn mich jemand sieht. Man weiß nie wer oder was sich hier rumtreibt. Ich muss mich verstecken, alles verstecken.
Also suchte ich mir einige Büsche aus, unter jene ich mich legte. Ich begrub meine Taschen mit meinem Körper, denn sie waren alles was ich noch hatte.

Leben auf der Strasse?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt