6 Kapitel

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"Sevi? Kannst du mich hören?"
Ich öffnete meine Augen, nur um sie einen Moment später wieder zu schliessen. "Sevi?" Jemand rüttelte an meiner Schulter.
Benommen versuchte ich, die unbekannte Hand von meiner Schulter zu entfernen. Erst wollte es mir nicht recht gelingen, doch dann liess man von mir ab. Langsam öffnete ich meine Augen ein weiteres Mal, dieses Mal ohne sie zu schliessen. Ich blickte direkt in Jonis weisse Augen. "So sieht man sich also wieder", krächzte ich schwach.
"Was ist passiert? Ich war doch am Hauptbahnhof..."

"Keine Ahnung",meinte er nachdenklich,"wir hörten nur Schreie. Als wir nachsehen wollten warst da nur du, auf den Boden gekauert wie ein Häufchen Elend."
"Wir?" War er nicht allein?
"Ja, wir", lachte er. "Damit meine ich deine Partygäste..."

Es stellte sich heraus, dass Joni jede Menge Leute eingeladen hatte, um meinen Geburtstag nachzufeiern. Doch da so ziemlich alle entweder Schule oder etwas anderes zu tun hatten waren nur zwei gekommen, die sich mir als Elisa und Liam vorstellten. Ich fand es ganz angenehm dass nicht ganz so viele neue Leute da waren, denn sowas konnte einem schon ganz schön nervös machen. Die beiden waren trotz der Tatsache dass ich ein Fremder war gekommen, was sie schon ziemlich sympathisch machte.
Sie erzählten mit Joni die ganze Story wie sie mich dort so verloren und schreiend gefunden, und mit vereinten Kräften zur Osthalle bugsiert hätten.
Langsam füllte sich die Lücke in meinem Gedächtnis, einzelne Fetzen an Erinnerungen kamen zurück.

Wie von einer auf die andere Sekunde schienen alle Blicke auf mich gerichtet... Sofort blieb ich stehen. War ich denn ganz allein? Es schien fast als wollten ihre Blicke mich töten...

"Sevi? Alles okay? Du zitterst ja!" Elisa beugte sich besorgt zu mir runter, wobei mich ihre farbigen Extensions am rechten Arm kitzelten.

Diese Blicke... sie sahen mich an wie ein Geier sein Frühstück...

Nein! Gar nichts war okay! Alle hassten mich...
"Ja... alles okay..."
In ihrem Blick konnte ich Zweifel erkennen, so ganz glaubte sie mir wohl nicht. "Sag schon, irgendwas ist doch. Man bricht doch nicht ohne Grund schreiend zusammen..."
Na gut, dachte ich mir. Was hatte ich denn zu verlieren wenn ich es ihnen erzählte?
"Sie haben mich alle angestarrt. Die ganze Zeit..." Tränen stiegen mir in die Augen. "So abschätzig, als wäre ich Müll, als müsste man mich entsorgen weil ich nichts mehr tauge! Man sieht mir meine Heimat und meine Probleme an", beichtete ich, mit einem Blick auf meinen linken Arm.
"Aber Sevi", lachte Liam, "das tun sie doch bei allen die ihnen nicht ins System passen. Beachte sie einfach nicht. Das mag sich vielleicht schwierig anhören, doch mit der Zeit gewöhnst du dich dran. Das haben hier so ziemlich alle durchgemacht... Und nun zu deinem Arm. Ich würde vorschlagen, wir gehen zum Müller und kaufen erst mal Desinfektionsmittel, eine Narbencreme und einen Verband für dich."

Ich senkte berührt den Kopf. Diese Leute waren so nett zu mir... das fühlte sich ganz komisch an.

Auf dem Weg zum Müller schien es mir wieder so als würden uns alle anstarren, doch da ich mit der Gruppe unterwegs war wurde das Gefühl abgeschwächt, und ich konnte es teilweise durch Gespräche in den Hintergrund rücken.

Warum war ich so paranoid geworden? Weil mir jederzeit all mein Hab und Gut genommen werden konnte?

"Joni? Kommst du?", rief Elisa. Ich beeilte mich ein bisschen mehr, und schloss zu ihr auf. "Die Paranoida ist wieder da...", informierte ich sie mit einem gequälten Blick. "Das geht später weg, glaub mir... Wir können dir sonst nachher gleich was geben was hilft dich besser zu fühlen", meinte sie freundlich.

Wir betraten den Müller, und Liam zog mich mit sich um den Verband zu suchen. "Sevi kannst du da drüben Desinfektionsmittel holen? Octenisept ist am besten geeigent. Deine Narbencreme sollte gleich daneben liegen..." "Ja klar", meinte ich, und machte mich auf den Weg. Schnell war das Regal gefunden, und die richtigen Sachen herausgesucht. Ich traf mich mit Liam bei der Kasse, und wir warteten auf Joni und Elisa. "Wo sind sie denn eigentlich?" Ich wunderte mich, dass sie nach fünf Minuten immernoch nicht aufgetaucht waren. "Die kaufen noch Sachen für deine Party..."
"Aber das ist doch nicht nötig", meinte ich, und schüttelte den Kopf. "Ey, Liam?", fragte ich Liam, als ich die Stille nicht mehr aushielt. "Was ist?"
"Wie alt seid ihr eigentlich so?"
"Rate doch..." Ich überlegte. "Ich denke mal, Elisa ist achtzehn. Sie benimmt sich voll erwachsen, wenn du weisst was ich meine. Joni ist bestimmt älter, so zwanzig oder so... und du..." Ich dachte nochmal scharf nach. Mit einem Blick zu Liam rüber merkte ich allerdings, dass ich so ziemlich falsch liegen musste. "Junge",lachte er, "Elisa ist fünfzehn, Joni neunzehn und ich vierzehn."
"Ach du heilige Scheisse..."
"Hättest du nicht erwartet, was? Tja, das Leben hat uns geprägt. Innerlich sowie auch äußerlich..."
Komischerweise wusste ich genau was er meinte...

"Hey Jungs!",rief Elisa uns schon von weitem zu. Joni und sie trugen jede Menge Flaschen mit sich, die sie nun auf das Kassenband legten. "Das macht dann 15 Euro bitte", meinte die leicht verstörte Kassiererin mit einem kritischen Blick auf meinen linken Arm. Liam legte einen Zwanziger hin, und reichte mir die Sachen.

"Also Leute, gehen wir zurück an die Ost!" Elisa schnappte sich die Flaschen und lief voraus. Joni bezahlte, gesellte sich zu mir, und begann meinen Arm zu desinfizieren, mit Narbencreme einzuschmieren und gleich darauf zu verbinden. "Danke..." Ich war echt froh, ihn zu haben. "Kein Problem. Wir sind ja schliesslich jetzt Freunde, hab ich Recht?" Freunde? Ich hatte also tatsächlich Freunde gefunden. "Ja... natürlich", meinte ich grinsend.

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