~Amber~

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~Amber~

Sie hatte den Funken gesehen. Den Funken in seinen braunen Augen, der für eine Sekunde erschienen war, und es hatte sie mit Triumph erfüllt. Natürlich hatte sie bemerkt, wie nervös er war, wie er ständig am Tischtuch gezupft hatte, nach links und rechts gesehen und sich auf die Unterlippe gebissen hatte. Trotzdem war kein Laut des Protests über seinen Lippen gekommen. Überhaupt kein Laut.

Nur die Stille, die von ihm ausging und der ernsten Blick, mit dem er sie manchmal betrachtet hatte. Der ernste, ausdruckslose, eintönige Blick.

Doch sie hatte den Funken gesehen. Und es hatte einen Funken in ihr gesetzt – einen Funken Hoffnung. Hoffnung, ihr Ziel zu erreichen.

Sie setzte die Feder mit der schwarzen Tinte auf den leeren, weißen Untersetzer, überlegte und schrieb dann ein paar Worte darauf.

Ziele kann man nur erreichen, wenn man sich auf das Ergebnis freut.

Ob sie sich auf das Ergebnis freute? Und wie. Sie konnte sich schon vorstellen, wie unglaublich sein Gesicht aussehen musste, wenn sich seine Mundwinkel hoben und sich kleine Lachfältchen um seine Augen bilden würden. Doch am meisten freute sie sich auf den Ausdruck in seinen Augen. Wenn sie endlich strahlen und das Traurige und Dumpfe in ihnen verlieren würden. Darauf freute sie sich und das war der Grund, warum sie ihn angesprochen hatte.

Sie wollte ihn glücklich wissen, denn sie hasste es, Menschen leiden zu sehen. Es war nun ihre persönliche Aufgabe – warum genau wusste sie auch nicht. Nur dass sie ihn lachen sehen wollte. Lächelnd, glücklich.

Abermals setzte Amber die Feder auf eines der runden Karton Unterlagen und biss sich auf die Unterlippe.

Gefühle kann man nicht abschalten. Man kann sie nur verdrängen.

Nachdenklich betrachtete sie die Worte und schüttelte dann den Kopf, nicht ganz genau wissend, warum genau sie diesen Satz geschrieben hatte. Zu viel ging ihr durch den Kopf, einerseits wegen Zayn, andererseits wegen ihrem Bruder. Er hatte immer noch nicht angerufen und sie machte sich Sorgen um ihn.

Ihr Blick wanderte über ihren kleinen Esszimmertisch, über die weiße Wand, an der die verschiedensten Wörter standen. Sprüche, Motivationen, Zitate – alles, an das sie sich erinnern wollte. Genau denselben Zweck erfüllte die Wand in der kleinen Kammer neben der Küche. Die Wand, an der so viele Fotos klebten, Schnappschüsse von den verschiedensten Momenten, Fotos von Familienfeiern, Geburtstagen – all das hatte sie aufgehoben, um, wenn ihr alles zu viel wurde, einfach in eine andere Zeit einzutauchen. In eine glückliche, fröhliche, gute Zeit.

Immer zu lächeln war nicht einfach.

Es sah so simpel aus, einfach nur die Mundwinkel anheben, das schien es zu sein. Doch es war so viel mehr. Man musste es fühlen, das Lächeln, damit es echt wurde. Denn warum Zeit verschwenden um ein falsches Lächeln aufzusetzen? Sie wollte nicht eine von den Menschen werden, die jedem ein falsches Lächeln schenkten und sich keine Mühe gaben, es wirklich ernst zu meinen.

Das Heben eines Mundwinkels konnte so viel für jemanden bedeuten, es wäre nicht richtig es zu fälschen. Entweder man lächelte ehrlich oder gar nicht. Was war schon der Unterschied zwischen einem falschen Grinsen und einer ausdruckslosen Miene?

Abermals wanderten Ambers Gedanken zu Zayn, wie er dasaß, ohne Emotionen, einfach nur ins Leere starrend. Er tat ihr leid, denn sie wünschte niemandem, so ohne Lebensfreude leben zu müssen. Irgendjemand dort oben hatte ihnen allen Zeit geschenkt um zu leben, und sie fand dass man diese Zeit nutzen sollte. Man sollte sie nutzen, um glücklich zu sein, Erinnerungen zu erschaffen und neue Sachen zu entdecken.

Ansonsten würde man in der Eintönigkeit ersticken und irgendwann keinen Platz mehr zum Atmen finden. Das Problem war, dass man dafür eine Person brauchte, die einen herausholte, die einem zeigte, wie man lebt. Für Amber war diese Person ihr Bruder gewesen und sie war ihm so unendlich dankbar, dass er ihr diese unglaubliche Kraft und den Glauben an das Glückliche im Leben geschenkt hatte.

Sie sollte ihn wirklich anrufen.

Hastig sprang sie auf und fischte ihr altes Handy aus der Mikrowelle. Es war leicht warm, doch sie wusste, dass es immer noch funktionierte. Handys wie dieses könnten auf den Boden fallen und überfahren werden und dann noch immer funktionieren. Ihre Finger wählten die Nummer, die sie in und auswendig kannte und schon bald ertönte ein eintöniges Tuten während sie sich ungeduldig auf den Küchentisch setzte, die Beine im Leeren baumelnd, den Blick auf den Baum vor ihrem Fenster gerichtet. Sie hatte Glück gehabt, dass er nicht in ihre kleine Wohnung gekracht war – der Sturm vor ein paar Tagen war immens gewesen.

„Amb?"

Die müde Stimme ihres Bruders ersetzte das Tuten und sie quiekte erfreut auf.

„Josh! Wie geht es dir?"

„Gut."

„Habe ich dich geweckt?"

„Vielleicht."

Sie hörte ihn gähnen und biss sich leicht schuldbewusst auf die Lippe.

„Tut mir wirklich leid, ich wollte dich nicht wecken, J."

„Kann man nicht mehr ändern, jetzt bin ich ja schon wach. Also? Warum rufst du an?"

Den leicht grummeligen Ton in seiner Stimme ignorierend zupfte sie an einer ihrer vielen lockigen Haarsträhnen und trommelte dann mit der Hand auf den Tisch.

„Ich – ich wollte nur fragen, wann du kommst."

„Oh."

„Ja."

„Hör zu, Amber-"

Sie seufzte, wissend, was kommen würde.

„-es kann sein, dass ich ein paar Tage später komme..."

„Okay."

Ihre Stimme war kaum mehr ein Flüstern, während sie schluckte und den Blick Richtung Boden wandte.

„Es tut mir wirklich leid, ich-"

„Schon gut."

Amber presste ihre Lippen aufeinander und holte tief Luft.

„Das macht nichts."

„Wirklich?"

„Wirklich."

Sie fühlte sich wahnsinnig schuldig nachdem sie aufgelegt hatte, denn, so ungern sie es tat, sie hatte gelogen. Es machte ihr sehr wohl etwas aus. Sogar sehr viel. Sie brauchte ihren Bruder einfach.

Mit der Feder in der Hand schnappte sie sich einen Untersetzer und begann zu schreiben. Wort für Wort.

Lügen sind Masken des Schmerzes.

Denn es stimmte. Sie fühlte Schmerz.

Grauenhaften Schmerz. Und sie hasste es.

Routines ➳ z.m #Wattys2016Where stories live. Discover now