Die Wochen vergehen, langsam bessert sich die Situation auch mit Frau Mandl wieder. Außerhalb des Unterrichts reden wir sowieso nie, aber dass sie mich am Anfang der Stunde anlächelt, hat sie wieder angefangen. An einem späten Nachmittag Anfang Dezember, gehe ich müde durch das Schulgebäude. Ich hatte noch Sportunterricht, Tom jedoch nicht. Daher bin ich allein unterwegs, auch wenn ich schon andere Freundschaften mit Mädchen geschlossen habe, ein Einzelgänger bin ich geblieben. Die Schule ist schon fast leer. Auf meinem Weg zum Ausgang höre ich plötzlich ein Schluchzen. Ich bleibe stehen und horche, aus welcher Richtung es kommt. Soll ich einfach schauen gehen, von wem es kommt? Zweifel und Neugierde kommen auf, doch meine Neugier siegt diesmal. Ich folge den Geräuschen, bis ich schließlich vor einem Klassenzimmer stehe, dessen Tür einen Spalt weit geöffnet ist. Ich spähe hinein, der Raum ist fast leer – bis auf eine Person. Am Lehrertisch sitzt nämlich Frau Mandl, und sie weint. Was soll ich denn jetzt nur tun? Normal würde ich eine Person, die ich nicht gut kenne, und vor allem eine Lehrerin, in so einer Situation in Frieden lassen, denn es geht mich nichts an. Doch ein Gefühl in mir sagt mir, ich solle hineingehen. Also nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und klopfe zaghaft an, dann betrete ich den Raum und ziehe die Tür leise hinter mir zu. Sie schaut auf und ihre Augen weiten sich in Überraschung, als sie mich erblickt. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?", frage ich, und knie mich neben sie hin, damit wir auf Augenhöhe sind. Sofort fängt sie stärker an zu weinen. Ich kenne das Gefühl. Sobald jemand nachfragt, ob alles okay ist oder man irgendwie Hilfe gebrauchen kann, bricht es noch mehr aus einem heraus. Keine Ahnung, was in dem Moment in mich fährt, doch ich beuge mich vor, nehme sie sanft in den Arm und streiche ihr über den Rücken. Sie wehrt sich nicht, sondern lässt es geschehen und weint sich an meiner Schulter aus. In dieser Position bleiben wir die nächsten 10 Minuten auch. Mein T-Shirt hat schon einen ziemlich großen, nassen Fleck, doch das macht mir nichts aus. Schließlich setzt sie sich wieder gerade auf, und ich lasse sie los. Sie hat sich beruhigt, zum Glück. „Danke...", flüstert die Frau gegenüber von mir leise. „Ich weiß, ich bin Ihre Schülerin, aber möchten Sie vielleicht drüber reden?", erkundige ich mich. Sie scheint kurz zu überlegen, dann gibt sie mir die Antwort: „Zuerst mal, da wir hier sowieso allein sind, kannst du mich gerne duzen und Merja nennen. Bei „Sie" fühle ich mich immer so alt." Ein kurzes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, welches jedoch schnell wieder erlischt und durch einen bedrückten Gesichtsausdruck abgelöst wird. Sie fährt fort: „Im Grunde gibt es nicht viel zu reden... Ich habe dir ja erzählt, dass ich eine Freundin habe" Schon wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen, doch sie redet weiter. „Mit dieser war ich jetzt 4 Jahre zusammen. Jetzt hat sie vorhin Schluss gemacht. Per SMS. Einfach so. Ich habe das überhaupt nicht kommen sehen. Sie schrieb außerdem noch, dass sie sofort ausziehen wird, aber eigentlich ist das voll kindisch, deswegen hier so zu weinen...". „Schh.." antworte ich. „Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass das Sie... äh dich sehr verletzt. Schließlich ist sie ein Teil deines Lebens und 4 Jahre sind eine lange Zeit, wenn du mich fragst. Und eines habe ich gelernt in meinen 17 Lebensjahren: Gefühle sind niemals kindisch. Sie sind menschlich. Es ist okay, so zu fühlen und die Emotionen auch hinauszulassen. Weinen ist eine gesunde Art, mit Dingen umzugehen, und es ist okay." Ich bin selbst erstaunt über die Ehrlichkeit in meinen Worten. Doch Merja lächelt mich an. „Danke. Es tut gut, Zuspruch zu erhalten", erwidert sie. Dann holt sie tief Luft. „Marie, es tut mir leid, wie ich reagiert habe, als ich sah, dass Tom und du euch küsst. Es hat mich nur einfach aus der Bahn geworfen, weil ich es nicht erwartet habe.", gesteht sie. „Ist okay.", versichere ich ihr. „Nein, ist es nicht. Ich kenne ja den Grund, weshalb du Schule gewechselt hast. Ich weiß natürlich keine Details, aber ich weiß, dass einige Leute dich nicht nett behandelt haben – und genau so sollte ich eigentlich nicht weitermachen. Marie. Ich weiß, ich bin im Unterricht immer sehr streng und unnahbar, das ist mein Schutzmechanismus, doch glaub mir, ich verstehe da mehr, als du vielleicht glaubst. Ich möchte nicht, dass Tom dich verletzt.", vertraut sie mir an. Ich starre schon die ganze Zeit gebannt in ihre blauen Augen, deren Farbe mich an das Mittelmeer bei Italien erinnert. Auch sie erwidert den Blick. Schließlich ertönt die Schulklingel und kündigt das Ende einer weiteren Schulstunde an und zerstört unsere seltsame Vertrautheit. Merja steht von ihrem Stuhl auf und auch ich erhebe mich wieder. „Sicher, du kommst klar?", frage ich sie. „Hm... ich versuche es.", gibt die schöne Frau zurück, und starrt bedrückt auf ihre Schuhspitzen. Sie trägt weiße, niedrige Converse. „Ich gebe dir meine Nummer. Wenn was ist, oder du reden möchtest, melde dich, okay?", sage ich und krame schnell aus meiner Tasche einen leeren Zettel, auf den ich meine Handynummer kritzle. Sie lächelt. „Danke, Marie. Wirklich. Es ist eh klar, dass wir in der Klasse so tun, als wäre das hier nie vorgefallen, oder?" „Ja...", erwidere ich. Langsam tauche ich wieder in die Realität ein, und mir wird klar, was hier eigentlich gerade geschehen ist. Mein Verhalten war so untypisch ich, aber irgendwie gefällt es mir. Mir gefällt der Kick, und für sie würde ich viel machen. Ich spüre den Wunsch in mir, dass es ihr gut geht. „Marie?", reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Oh. Ups. „Ja?" „Bis morgen. Und wirklich, danke." „Gerne.". Wir gehen noch gemeinsam bis zum Ausgang, dann verschwindet sie Richtung Parkplatz, während ich zu den Fahrradständern gehe. Ich kann noch immer nicht fassen, welches Szenario sich soeben in dem Klassenzimmer abgespielt hat. Ich bin mit ihr jetzt privat per du, sie hat meine Handynummer, und sie hat mir zu verstehen gegeben, dass sie offenbar auch etwas durchgemacht hat in ihrem Leben. Uff. Außerdem weiß ich jetzt den Grund, wieso sie weinte. Als ich zuhause auf mein Handy schaue, habe ich 5 verpasste Anrufe und 3 Nachrichten. Mist. Die Anrufe sind alle von Tom, und 2 der Nachrichten auch. Er fordert mich auf, ihn zurückzurufen, doch da sehe ich die andere Nachricht. Sie ist von Merja. Ich beschließe in dem Moment, Tom mal beiseite zu lassen und lese Merjas Nachricht: „Huhu, Merja hier. Ich wollte mich noch einmal bedanken, dass du für mich da warst. Darüber hinaus, möchte ich dir sagen, dass ich finde, dass du wirklich eine liebe, höfliche junge Frau bist, und dazu noch sehr erwachsen für dein Alter. LG". Ich lese die Nachricht immer wieder. Sie findet, dass ich sehr erwachsen bin? Das freut mich soooo sehr.
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Im Chaos der Gefühle
RomanceMarie ist in der 11. Klasse und wechselt an eine Schule, an der sie noch niemanden kennt. Bald schon ist sie hin- und hergerissen zwischen ihrem gut aussehenden Mitschüler Tom und der Anziehung zu ihrer Lehrerin, die sie selbst nicht ganz verstehen...