Kapitel 2

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2015

"Wieder eine Absage!", schnaubte Dr. Jessica McLaren, als sie den Brief öffnete, den sie heute Morgen in ihrem Briefkasten gefunden hatte. Sie zerknüllte, wütend grunzend, den Zettel und pfefferte ihn in Richtung ihres Mülleimers, bevor die braune Stute mittleren Alters demonstrativ einen Schluck von ihrem viel zu kalten Kaffee nahm.

Das war die fünfte Absage innerhalb einer Woche. Sie hatte sich als Ärztin in mehreren Arztpraxen beworben, doch anscheinend erfüllte sie die Anforderungen keiner einzigen Arbeitsstelle. Ein Arsenal ihrer Lieblingsabsagen hatte sie an ihre Pinnwand geheftet.

Zu hohe Qualifikationen für einen einfachen Arztberuf – das war ihr absoluter Favorit. Seufzend lehnte sie sich an die Wand neben sich, schaltete das Radio ein und lauschte dem Lied Manic Monday, das sie durch seine bloße Fröhlichkeit bereits tierisch aufregte.

Plötzlich jedoch wurde das Lied durch eine Eilmeldung unterbrochen. Die braune Stute mit wild gelocktem Fell drehte den Ton lauter.

»In der Nacht vom 30.06. zum 31.6. ist ein hochgefährliches Pferd aus einer Anstalt ausgebrochen. Halten Sie Fenster und Türen verschlossen und verlassen Sie das Haus nicht, bis die Lage unter Kontrolle gebracht wurde. Bewahren Sie Ruhe, wir halten Sie auf dem Laufenden.«

Jess Ohren hatten sich völlig unwillkürlich starr nach vorne gerichtet. Wenn eine solche Meldung kam, hatte das meist weit drastischere Gründe als ein Ausreißer aus einer Irrenanstalt. Das wusste von ihrer früheren Arbeitsstelle bei Hancester Science, einer hoch geheimen Forschungsanstalt.

Sie hatte sich immer um den Zustand der Testsubjekte gekümmert, bis sie ihre Stelle eines Tages gekündigt hatte, um sich einem weniger nervenaufreibenden Job zu widmen – in dem sie nun keine Anstellung fand.

Jess vermutete, dass eines der Experimente aus dem Laboratorium ausgebrochen sein musste, deshalb trank sie den ekelhaften, letzten Satz ihres Kaffees, packte ihre Tasche und machte sich auf den Weg in die Stadt.

Die Straßen waren wie leergefegt, als Jess in Richtung Innenstadt trottete.

Aufmerksam behielt sie die Umgebung im Auge und drehte ihre Ohren in alle Richtungen, sobald sie das Rascheln eines Blattes oder das Maunzen einer Katze hörte.

Wenn ein Pferd es verstand, mit wirren Experimenten oder gestörten Pferden umzugehen, dann war sie es. Warum sollte sie sich also verstecken, wenn sie auch helfen konnte?

Als sie in den ersten Block der Innenstadt einbog, empfing sie ein Sondereinsatzkommando, das eine Straßenkomplettsperre bildete und zwei Dutzend geladene Maschinengewehre auf sie richtete.

Jess blieb abrupt stehen, als sie den Sohn ihres früheren Chefs, Clyve Higgins, unter ihnen erkannte, der seinen Hengsten das Signal zum Abbruch gab.

»Jess? Was machst du hier? Es wurde eine Haussperre für alle Bürger angeordnet.«

»Wusste ich's doch, dass mehr hinter der Meldung steckte. Was ist passiert, Clyve?«

Der goldene Palomino mit der breiten Blesse trat mit besorgter Miene an Jess heran und blickte mit wilden, blauen Augen um sich. Er kam ihr dabei nahe. Viel zu nahe, für das, was sich in den letzten Jahren zwischen ihnen abgespielt hatte. Schließlich hatte sie sich nicht ohne Grund von ihm getrennt.

»Ich wünschte, ich dürfte es dir erzählen, aber ich fürchte, das kann ich nicht.«

Jess blickte in die Runde der schwerbewaffneten Soldaten, die mit angesetzten Waffen auf feindliche Bewegungen aller Art warteten.

»Ein Experiment ist entkommen, nicht wahr? Sag nichts, nick' einfach, wenn ich recht habe.«

Clyve nickte mit ängstlichem Schnauben.

A3360 - Opfer der Wissenschaft (8 Kapitel Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt