Kapitel 5

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»Jess! Da ist ein Fremder vor der Tür!«, wieherte Alex, als er am nächsten Morgen in das Schlafzimmer der braunen Stute platzte und sie damit unsanft aus dem Schlaf riss.

»Das ist nur der Briefträger! Lass mich schlafen!«

»Aber es ist sechs Uhr morgens!«

»Ganz genau! Viel zu früh zum Aufstehen! Leg dich nochmal hin!«

Manchmal kam Alex Jess so vor, wie ein ungezogener, junger Hund, den man erst bändigen musste. Sie hatte diese Nacht keine zwei Stunden durchschlafen können, weil ihr neuer Untermieter zuerst die Toilette nicht finden konnte, dann, weil er Durst hatte und schließlich weil er drei Mal innerhalb weniger Stunden umherstreifende Katzen vor dem Haus gesichtet und sie für feindliche Bewegungen gehalten hatte.

Jess war sich nicht sicher, ob bei dem Stoß mit dem Elektroschocker nicht doch ein paar Sicherungen bei ihm durchgebrannt waren.

Letztlich sah sie es jedoch ein, dass es keinen Zweck hatte, im Bett liegen zu bleiben, wenn Alex wach und in voller Fahrt war. Sie würde ja doch kein Auge mehr zu bekommen.

Gähnend schleppte sich Jess die Treppe hinunter und las zwei Briefe vor dem Briefschlitz ihrer Haustüre auf.

»Absage...Absage...«, las Jess grummelnd vor und pfefferte die Briefe sofort in die Tonne, die sie zu diesem Zweck neben die Haustür gestellt hatte. Oh prima! Das waren ihre letzten beiden Bewerbungen gewesen.

Jess entschloss sich, einen Kaffee zu trinken. Einen besonders starken. Das würde wenigstens ein klein wenig Licht in ihren versauten Morgen bringen. Doch falsch gedacht.

Jess entglitten die Gesichtszüge, als sie Alex sah, der ihren Toaster auseinandergenommen und ihn neu zusammengesteckt hatte, um damit ein kleines Rädchen anzutreiben, das er mit der Zitronensaftpresse verbunden hatte, um damit eine Orange in ein Glas zu pressen.

»Was zur Hölle tust du da?«

»Orangensaft machen.«

Wenigstens hat er nicht auch noch die letzten Vorräte aufgefuttert, dachte Jess und ging zum Küchenschrank, um sich eine Scheibe Toast zu holen. Doch sie fand den Schank völlig leer vor.

Die Konservendosen waren fort, genau wie das Toast, ihre letzte Packung Müsli und ihre Lieblingskräcker.

»Hab die Dosen für die Maschine gebraucht. Toll geworden, oder?«

Alex presste mit der Konstruktion den letzten Rest Saft aus der Orange und legte dann seinen Kopf auf den Tisch, um das Glas mit der orange-gelben Flüssigkeit anzusehen.

»Eine so kräftige Farbe. Im Labor gab es solche Farben nicht. Schau!«

Jess rollte mit den Augen und tat so, als sehe sie sich das Glas an. Sie musste wohl gedacht haben, dass Alex ihr das Glas zum Frühstück gemacht hatte, denn sie hatte fürchterlichen Durst.

Doch als sie ihren Hals danach streckte, nahm Alex das Glas und trank es in einem Zug aus.

»Herrlich!«, schnaubte er schmatzend, als er das Glas zurück stellte. »Und was isst du zum Frühstück?«

Nun war der Punkt erreicht, an dem Jess der Kragen platzte. Sie wusste zwar, dass er nicht deuten konnte, wenn sie wütend war und auch, dass er nicht wusste, was sich gehörte und was nicht. Doch jetzt war er eindeutig zu weit gegangen!

Jess holte zu einem Machtwort aus, das vorsah, Alex mit einem Tritt in den Hintern aus dem Haus zu werfen. Doch da klingelte es an der Haustür.

Jess fuhr herum und blickte dann wieder zu Alex, der völlig kühl zur Tür blickte.

»Hallo?«, rief Jess mit klopfendem Herzen.

»Jess? Ich bin's. Kann... kann ich reinkommen?«

Es war Clyve. Noch nie zuvor hatte Jess eine so plötzliche Panik ergriffen, wie in diesem Augenblick.

»Einen Moment, ich... ich war gerade unter der Dusche. Bin gleich da!«

Jess packte Alex an der Mähne und zerrte ihn die Treppe hinauf. Stöhnend vor Schmerz folgte das Experiment ihr, als sie es in den Wandschrank in ihrem Schlafzimmer steckte.

»Bleib hier und rühr dich nicht vom Fleck! Keinen Mucks! Verstanden?«

Alex nickte ernst, als Jess die Tür des Schrankes zu schob, dann ins Bad eilte, sich die Mähne nass machte und sich in ein Handtuch hüllte. Dann eilte sie zur Tür.

»Heyyyyy!«, presste sie unter gestresstem Lächeln hervor. Clyve gab ihr einen liebevollen Wangenkuss und blickte sie besorgt an. Er trug seine Arbeitskleidung. Eigentlich ungewöhnlich für einen derart spontanen Besuch.

»Alles in Ordnung? Du hast dich gestern gar nicht mehr gemeldet. Ich dachte schon, es wäre etwas passiert.«

Jess schnaubte ungehalten.

»Mir geht es gut, wie du siehst. Warum bist du hier?«

Clyve lächelte und drückte Jess rückwärts in ihre Wohnung hinein. Dabei presste er seine Nüstern ganz fest an die von Jess, die gar nicht wusste, wie ihr geschah.

»Clyve, was wird das, wenn es fertig ist?«, schnaubte sie leise, jedoch ohne sich gegen seine Berührungen zu wehren. Clyve lehnte sich zu ihr herunter und als sich ihre Augen trafen, begann Jess Herz schneller zu schlagen.
Es war wie damals, als sie vom Rausch ihrer jugendlichen Liebe benebelt waren. Es gab nichts um sie herum, außer den tief blauen Augen von Clyve und der verwegenen Haarsträhne, die sich immer aus seinem Schopf löste und die sein Gesicht so malerisch einrahmte. Jess verlor sich für einen Moment in diesem Anblick, bevor sie sich daran erinnerte, dass sie ein womöglich streng geheimes und hochgefährliches Experiment in ihrem Kleiderschrank versteckte.

»Ich habe dich vermisst«, entgegnete Clyve leise flüsternd. Jess seufzte laut und drückte sich an ihm vorbei, um in die Küche zu gehen. Sie machte jedoch sofort auf der Vorderhand kehrt und schlug die Tür zu, als sie ihren Toaster auf dem Küchentisch entdeckte. Zumindest das, was nach Alex kleinem Experiment noch davon übrig war.

»Was war das denn? Hattest du Langeweile?«, lachte Clyve nur. Zu spät. Er hatte es gesehen. Jess presste ein nervöses Grinsen hervor.

»Du weißt doch, wie die Dinger sind. Da ahnt man nichts Böses und plötzlich grillen die Toasts in einer drei Fuß hohen Stichflamme vor sich hin.«

Jess gab Clyve einen freundschaftlichen Stoß, doch der blonde Hengst legte nur ein Ohr schief und blickte sie mit einer der Situation angemessenen Skepsis in seiner Miene an.

»Weshalb bist du hier?«, seufzte Jess schließlich, »Wenn du nur hier wärst, um mich mit Küsschen und Umarmungen zu beglücken, wärst du nicht in einem solchen Aufzug hier.«

»Erwischt«, schnaubte Clyve lächelnd. Jess legte verwundert die Ohren zur Seite. Was könnte er nur von ihr wollen?

»Ich möchte, dass du wieder für Hancester Science arbeitest, Jess. Wir könnten eine weitere Ärztin gut gebrauchen. Deine Arbeit war immer ohnegleichen. Es fehlt uns an solch qualifizierten Kräften.«

»Clyve, du weißt, warum ich damals gegangen bin.«

»Ja, das weiß ich, Jess. Aber-«

»Keine Experimente an Pferden mehr. Grund Nummer zwei, dürfte dir vielleicht besser bekannt sein.«

»Jess, ich dachte, vielleicht könnten wir ja neu beginnen.«

»Clyve, ich-«

In diesem Moment rumpelte es im Obergeschoß. Zuerst meinte Jess, es sich nur eingebildet zu haben, doch als Clyve ebenfalls den Kopf nach dem Geräusch reckte, war Jess klar, dass sie nun in Schwierigkeiten steckte. Denn ihr fiel keine Ausrede ein, als Clyve die Treppe hinauf stürmte, um sicher zu gehen, dass es nicht wieder ein Einbrecher war, der sie verletzen konnte.

Jess wurde ganz mulmig und für einen Moment wünschte sie sich, dass sie einfach die Flügel ausbreiten und davon fliegen konnte, wie ein Vogel, der eine lauernde Katze im Dickicht bemerkt hatte.

A3360 - Opfer der Wissenschaft (8 Kapitel Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt