Das verwelkte Blatt im Wind

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Dad nickte erschöpft. "Gut."

"Setzen wir uns erst einmal."

Mit einem letzten Blick nach hinten ließ ich mich auf den kleinen Einzelsessel fallen. Mein Vater nahm auf dem anderen Großen Platz, der am nächsten stand. Er schloss kurz müde die Augen als wolle er auf der Stelle schlafen, um all das hier zu vergessen.  Und zum ersten Mal seit langer Zeit wirkte er auch wirklich so alt wie er nun war. Mit seinen 55 Jahren gehörte er lange nicht mehr zu der Altersgruppe, die man als "jung" bezeichnete- das war klar. Aber irgendwie war er mir immer stärker vorgekommen - vor Energie und Tatendrang strotzend, unerschöpflich wie ein kleiner, barmherziger Samariter. Nun erst erkannte ich die kleine Falten neben seinen braunen Augen und die tiefe Furchen um den Mund herum, die immer verschwanden, wenn er lächelte. Er wirkte wie ein alter, gebrechlicher Mann, der schon viele Lasten hatte tragen müssen, obwohl einige von ihnen eigentlich zu schwer gewesen waren und ihn beinahe erdrückt hätten. Mitleid war nicht gerade das, was man für seinen Vater empfinden sollte, doch genau dieses Gefühl überkam mich bei seinem Anblick: die gesenkten Schultern, die matten Haare und die Erschöpftheit, die er ausstrahlte, standen im krassen Gegensatz zu dem Bild, das ich mir von ihm als kleines Mädchen gemacht hatte. Und ein kleiner Teil von mir vergab ihm sogar. Er vergab ihm Mums Tod, die Unaufmerksamkeit, die ihn des Öfteren auszeichnete wie ein Orden, die Härte, die Bestimmtheit und die ganzen Fehler, die er bereits begangen hatte. Denn er war auch nur ein Mensch - Menschen machten nun einmal Fehler. Und er bezahlte sie wie ich mit Leid und Kummer. Mums Verlust gehörte nun einmal zu jedem unserer Leben dazu, daran konnten wir nichts ändern. Und leider hatte Dad wirklich Recht mit dem, was er sagte: Mum, hätte wirklich nicht gewollt, dass ich so zu ihm war. Bloß, wo war sie nun? Jedenfalls nicht mehr dort, wo sie eigentlich hätte sein sollen. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn sie nicht gestorben wäre. Vielleicht.
Mein Dad öffnete die Augen.

"Schwester Anne-Marie hat sich Sorgen um dich gemacht, als du gestern Abend einfach so weggelaufen bist."

"Achja?", erwiderte ich und versuchte, den Spott in meiner Stimme zurückzuhalten.

Dad seufzte wieder. "Sie ist kein schlechter Mensch und das weißt du."

"In dem Punkt sind wir uns einig. Sie ist nicht schlecht sondern abgrundtief böse und-", ich räusperte mich, "Dad, sie hasst mich. Sie hasst mich wie die Pest. Und leider kann ich von mir auch nicht wirklich behaupten, dass ich sie mag."

"Ich weiß." Dads Blick wanderte jetzt endlich zu mir. "Aber wenn du dir Mühe gibst, dann schaffst du das. Ich glaube an dich und das Kloster ist nun einmal die beste Möglichkeit-"

"Wir hatten das Gespräch doch schon. Du denkst, das Kloster sei der sicherste Ort für mich. Und das verstehe ich. Das verstehe ich sogar sehr gut." Jens Millers Bild tauchte vor meinen Augen auf. Seine falschen Worte. Seine Berührungen voller Versprechen, die allesamt gelogen waren. Skylas Verrat. Mein Herz war auf so viele unterschiedliche Weisen zersplittert, dass ich nicht mehr wusste, ob überhaupt noch etwas davon übrig geblieben war. Eine Träne löste sich aus meinen Augenwinkeln.

"Vielleicht hast du sogar recht", murmelte ich kaum hörbar und Dad zog scharf die Luft zog. Seine Pupillen waren vor Überraschung geweitet.

"Du...du bist also doch einverstanden?"

Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, schloss ihn kurze Zeit später aber wieder. War ich wirklich einverstanden? Nein, eigentlich nicht, sagte mein Verstand. Doch er konnte nichts gegen die Scherben meines Herzens tun, die sich immer weiter in mein Fleisch bohrten. Ja, riefen sie, überall ist es besser als hier. Noch ein Verrat würde dich umbringen. Einatmen. Ausatmen. Und wieder einatmen. Meine Hand krallte sich in den Stoff des Sofas.

"Siehst du die große Eiche vor unserem Haus mit den tausend orangenen Blättern? Schau sie dir an. Und wenn du es getan hast, dann beantworte mir folgende Frage: Weißt du wie es ist immer umherzuziehen, ohne wirklich zu wissen, wo dein Platz ist,  Dad?", wollte ich wissen und lachte leise, "in gewisser Weise bin ich wie eines dieser sterbenden Blätter. Ich hatte bisher immer einen Halt im Leben, wusste, wen ich meinen 'Freund' und wen 'meinen Feind' nennen durfte. Ich hatte eine Heimat, einen Vater, der mich liebte und achtete. Er konnte sich auch nicht als perfekten Dad bezeichnen, aber trotzdem hatte er immer ein offenes Ohr für mich. Meine Freunde und meine Familie waren also wie der Stamm der Eiche, wie die Äste daran, die mich am Boden hielten. Aber irgendwann kommt die Zeit, in der das nicht mehr genug ist. Ich...ich werde verraten, leide und durchlebe die Hölle. Das Blatt welkt, ändert seine grüne, satte Farbe bis es nur noch in einem glühenden Orange, einem wütenden Rot oder einem hoffnungslosen Braun leuchtet- bis es schließlich ganz seinen schönen Glanz verliert. Und dann löst es sich von seinem Platz. Es will schwerelos sein, sich erheben über die ganze verlogene Welt und fliegen bis zum Horizont. An den Wolken vorbei und immer weiter, um endlich die trübe Schwere zu besiegen, leicht zu sein und endlich...frei. Wie bei dem Blatt wurde auch mir der letzte bindende Faden genommen. Ich wollte weg, Dad, und will es immer noch, nur um all diesem Verrat zu entkommen, der mir widerfahren ist. Gestern Abend hat mich die Sehnsucht nach Linderung einfach überfallen und mitgerissen. Ich wurde vom Wind getragen- an Feldern und Häusern vorbei in eine Wald hinein. Ich bin gestolpert immer weiter, bis ich gefallen bin. Doch ich habe nun etwas begriffen: Nur Vögel können fliegen. Auch wenn es anders scheint, wird das Blatt nur durch den Wind getragen. Es erhebt sich nicht aus eigener Kraft, wird auf seinem Weg nach links und rechts geworfen,  immer weiter. Und deshalb wird es irgendwann fallen, wenn der Druck nachlässt. Wie tief- das bleibt ihm alleine überlassen. Wo es aber bleibt, das kann nur der Wind entscheiden." Ich versuchte mich an einem trägen Lächeln, als das Bild vor meinen Augen verschwand. Meine Stimme zitterte, als ich fortfuhr:
"Und ich habe entschieden, das genau hier der Ort ist, wo ich landen möchte. Denn ich weiß, dass ich es hier besser haben werde. Trotz des Schmerzes, des Leides und des Kummers sind hier an diesem Platz genauso viele schöne Dinge passiert, die mich zu der Person gemacht haben, die ich nun einmal bin. Ich werde nicht feige sein, zu fliehen, sondern stark genug, zu bleiben, solange da noch diese Hoffnung in mir ist, dass alles wieder so wird, wie es einmal war. Und wenn es das Kloster ist, das diese Hoffnung nährt, dann ist es so." Meine Kehle protestierte, als ich geräuschvoll schluckte. "Denn ich hab dich lieb, Daddy. Ich will dich und Skyla nicht verlieren, ganz gleich wie sehr ihr mir bisher weh getan habt. Man muss schon töricht sein, um glauben zu können, dass Liebe solche Hürden nicht überwinden kann. Verstehst du das, Dad?"

Nichts.

"Dad? Kannst du das denn nicht verstehen?"

Mit Tränen in den Augen hob ich den Blick... war bereit, die Frage noch ein dutzend Mal zu stellen. Doch da war niemand, der sie mir hätte beantworten können:

Dad war verschwunden.

The Badboy, my best friend & IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt