Davor

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DAVOR

Jetzt sei er hier, sagte der Chef und müsse sich mit schlechten Geschichten und unkompetenten Mitarbeitern herumschlagen. Dann raunzte er und gab Befehle. Jemand musste zu irgendeinem Schützenverein und hatte fünfzig Zeilen zu schreiben, aber flott. Zehn davon wurden gedruckt, wenn überhaupt. Man tat besser, was er wollte, sonst gab es Ärger. So wie heute, bei der Lagebesprechung. Der Chef legte Wert auf Pünktlichkeit. Einer der Kollegen, Martinek, kam zu spät. Auf einen Menschen kommt es nicht an, hatte der Chef gebrüllt, und sein dicker Kopf war noch etwas röter geworden als sonst, denn die Hitze am Morgen vertrug er nicht. Vielleicht hatte er das nicht so gemeint, das mit dem Menschen. Aber es war so ein Satz, bei dem man ihm Ungeheuerliches zutraute. Und nur zu leicht verlor man dann eine gute Story an einen Kollegen. Schlechte Geschichten gab es genug.

Nur Felix ärgerte sich nicht, wenn er eine schlechte Sache bekam. Denn wenn man es genau nahm, dann gab es in dieser Stadt keinen guten Geschichten, schon gar nicht im Sommer. Die Bauern klagten über zu wenig Regen. Vielleicht musste ein Freibad gesperrt werden, wegen mieser Wasserqualität. Ein Spanner am Badesee, der schönste Biergarten, das war es auch schon. Und die Verschwundenenstorys. Irgendwer wurde vermisst gemeldet, man fuhr bei der Familie vorbei. Wenn es was hergab, kam es rein. Am Ende tauchten sie zwar wieder auf, hatten irgendwo Ferien gemacht oder versucht, ihrem Leben eine Wendung zu geben, aber dafür interessierte sich niemand mehr. Manchmal blieben sie verschwunden, das war dann auch in Ordnung.

Es war nicht das Schlechteste, was Felix für heute Nachmittag bekommen hatte. Eine Meldung auf Seite zwei, nicht zu viel fürs Erste, man würde sehen.

In der Fassade des Einkaufszentrums spiegelte sich der blaue Himmel. Direkt dahinter bog Felix ab. Ein paar Straßen weiter blieb er vor einem Eiscafe stehen. Angelo stand über dem Eingang. Eine Markise hing schlapp über den Tischen im Freien und spendete nur wenig Schatten. Felix kurbelte die Wagenfenster hoch, nahm den Umschlag aus dem Handschuhfach und ging hinein.

Am einen Ende der Bar saß eine mollige junge Frau mit gleichgültigem Gesichtsausdruck. Ihr kurzberockter Hintern quoll über das Polster und als Felix eintrat und stehenblieb, um seine Augen an das schummrige Licht zu gewöhnen, senkte sie ihren Handspiegel. Dann schlug sie ein bestiefeltes Bein über das andere und zog sich weiter sorgfältig die Lippen nach, ganz so, als gälte es ein Kunstwerk zu vollenden.

»Na. Alles klar?«, begrüßte ihn der Barkeeper, ein Pole mit italienischem Akzent.

»Läuft. Einen Gin Tonic bitte. Zitrone und Eis.«

Felix setzte sich auf einen Hocker und griff über die Theke nach den Streichholzschachteln.

»Wieder allein gegen die Mafia?« Der Pole grinste.

Felix holte ein Päckchen Zigaretten aus seinem Jackett und steckte sich eine an. »Mach dich ruhig über mich lustig.«

Der Pole schob ihm ein Glas und das Schweppes-Fläschchen hin. Felix goss ein, trank gleich einen großen Schluck und fühlte sich sofort besser.

Außer der jungen Frau und einem Pärchen auf der Terrasse war da niemand. Die Luft: angenehm kühl. Fast zu kalt, dachte er und zog das Jackett über. Der Pole ging zur Musikbox und warf eine Münze ein. Der Sommerhit des Vorjahres erklang, der Pole summte leise mit und trocknete Pilsgläser ab. Draußen, auf der anderen Straßenseite stand die große grüne Tankstelle, die man erst im Frühjahr dort hingestellt hatte. Überall wurden die jetzt hochgezogen, Tankstationen in Firmenfarben, in wenigen Wochen aufgebaut. Die alten mussten weg, die neuen leuchteten nachts wie Weltraumstationen, Botschafter einer neuen Ordnung. Vierundzwanzig Stunden geöffnet.

Felix trank noch einen Schluck und wollte eben das Kuvert aufreißen, als die Dicke ihren Lippenstift einrollte, vom Hocker rutschte und herangestöckelt kam. Sie pulte sich einen Kaugummi aus dem Mund und drückte ihn mit Finger und Daumen in seinen Aschenbecher.

»Willst du ficken?«

Felix schaute sie an. Der Pole trocknete weiter ab.

»Heute nicht«, sagte er.

»Blasen ohne Gummi für dreißig.«

»Sorry. Ich muss arbeiten.«

»Geht doch schnell, Kleiner.«

»Lass ihn«, sagte der Pole. »Du hörst doch: Er will nicht.«

»Pah.« Die Nutte drehte sich um und stöckelte hinaus, über die Fliesen.

Felix und der Pole sahen ihr nach.

»Die schafft sonst im um die Ecke an«, sagte der Pole. »Wenig los jetzt.«

Im Umschlag fand Felix eine Doppelseite der letzten Ausgabe. Ein kurzer Absatz, Seite vier, war mit Rotstift umkringelt. Er blies den Rauch aus der Nase und las.

Vermisst, stand da. Tim Zucker, Juniorchef der Zucker AG, ein weltweit operierender Pharmakonzern und wichtigster Arbeitgeber der Stadt. Zum letzten Mal am 14. Juli gesehen. Die Polizei hatte die Ermittlungen aufgenommen.

»Kenne ich.«

Der Pole beugte sich über die Theke und tippte auf das Foto. »Der war früher öfter im Scala. Du weißt schon, der olle Club in der Pustet-Passage. Ein kleiner Angeber, hat mit seiner Kohle nur so um sich geschmissen. Ist was mit dem?«

»Nein.« Felix zog die Zeitung weg. Er las die Zeilen noch einmal und schaute sich das Foto genauer an. Dann trank er aus und stellte das Glas auf die Theke. »Zahlen.« Er schob dem Polen einen Schein hin.

Aber der grinste und nickte. »Passt schon.«

An der Tür fiel Felix noch etwas ein. Er drehte sich um und deutete wortlos auf den Polen, der die Schultern hochzog und ihm die Handflächen zeigte.

»Was?«

»Wenn du was über die Sache auf der Rennbahn weißt, ruf mich an.«

Der Pole fuhr sich mit dem Finger langsam um die Kehle.

Wieder auf der Straße, roch Felix den warmen Teer und die Abgase, die sich seit dem letzten Regen über der Stadt gesammelt hatten. Wenn man von den Hügeln auf sie hinunterschaute, sah man eine diesige bräunliche Glocke, die in der Sonne flimmerte und die Konturen der Häuser verschwimmen ließ. 

Zombifiziert - Tag NullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt