Davor

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DAVOR

Auf einen Menschen kam es nicht an. Felix schloss die Augen und versuchte, den Schweiß auf seinem Gesicht zu ignorieren. Es war eine Story, hatte der Chef gesagt, und es war Sommer. Er öffnete die Augen, die Ampel stand immer noch auf Rot. Er beugte sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster herunter. Auf der rechten Spur hielt eine Limousine, deutsches Fabrikat, getönte Scheiben. Wieder schloss er die Augen und stellte sich vor, er wäre woanders. An einem See vielleicht, oder im Freibad. Eine Strähne klebte auf seiner Stirn und kitzelte, er versuchte sie wegzublasen. Vergeblich.

Er wischte sie beiseite und blickte nach vorne: Grün. Die Limousine war schon fast über der Brücke verschwunden. Im Rückspiegel: niemand. Keiner hupte. Vor einer Woche hatten die Schulferien begonnen, die Ausfallstraßen der Stadt waren staubig und verlassen. Die Mittagssonne warf kurze Schatten und verbrannte das Gras auf den Grünstreifen zu trockenem Gelb. Dazwischen lagen leere Dosen und das braun-goldene Plastikpapier des Sommers. Schoko-Nougat-Eis, das Eis der Saison, hatte in seiner Zeitung gestanden. Felix hatte es auch schon probiert. Zu fett fand er, zu viel tierisches Fett, zu viel Zucker. Danach hatte man ein schmieriges Gefühl im Mund und schrecklichen Durst. Aber die Leute liebten es, weil die Schokolade so schön knackte, wenn man zum ersten Mal darauf biss. Felix mochte gerne Wassereis. Es erinnerte ihn an Schulwandertage, alte Bilder im Fotoalbum und kalte Zungenküsse.

Er gab Gas, jagte den alten 3er BMW über die Kreuzung und den Fluss, der sein Wasser wie eine Last durch die Stadt schleppte, vorbei an den Ufermauern und dann weiter hinaus, irgendwohin, wo die Menschen von allem weniger hatten als hier.

Der Schiffsverkehr: eingestellt. Zu wenig Tiefgang. Schwarze Kähne lagen im Hafen und trugen fremde Namen, aufgemalt in kyrillischen Schriftzeichen. Die Mannschaften, düstere Männer mit schwarzem Haar, lungerten in der Gegend herum und erschreckten Spaziergänger mit kehligen Lauten. Mütter warnten ihre Töchter. Es hatte Zwischenfälle gegeben. Nichts Ernstes, aber doch genug, um für etwas Wirbel zu sorgen. Natürlich wurde übertrieben, das gehörte dazu: Provinzjournalismus.

Unsere Leser wollen das, sagte der Chef. Es klang ein wenig traurig und Felix war sich nie sicher, wie ernst er es meinte. Tatsache war: Der Chef schuftete schon ewig für dieses Blatt. Manche behaupteten, schon ein Leben lang. Ihn sich als jungen Mann vorzustellen, fiel Felix schwer. Der Chef hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, die er wirr und verschwitzt nach hinten legte. Er trank und aß gerne und viel, dann wurde er schweinisch und begann zu erzählen. Im Ausland hatte er gearbeitet, schon im Krieg in einer Nachrichtenkompanie, stationiert in Südfrankreich. Es folgten Soldatengeschichten, an deren Ende er laut auflachte. Und während alle anderen noch lachten, wurde der Chef still, deutete mit beiden Händen einen kleinen Abstand an und sagte, ohne mit der Wimper zu zucken: So einen kleinen Hitler bräuchten wir wieder.

Zombifiziert - Tag NullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt