Danach

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DANACH

Marti setzte sich in den Jeep und schaltete das Radio an. Aber das Gerät gab nur ein monotones Rauschen von sich. Er drehte an beiden Knöpfen. Er suchte den Bayerischen Rundfunk und Radio Energy. Nichts. Er schaltete aus und ein, ging auf Mittelwelle, aber es war vergeblich. Wahrscheinlich irgendein Wackelkontakt an der Antenne. Kein Wunder bei der alten Kiste. Doch dafür hatte er jetzt keine Zeit, er musste ja immer noch dringend in die Stadt. Wenn der Zug pünktlich war, kamen seine Eltern in zehn Minuten am Bahnhof an, der ICE 724 aus München, Gleis 8. Das war jetzt schon nicht mehr zu schaffen.

»Scheiß drauf«, sagte er laut und startete den Motor. »Dann eben anders!«

Der Anlasser orgelte fünf Sekunden, dann sprang der Motor wieder stotternd an und holte tief Luft und Treibstoff aus dem Vergaser. Marti legte den Rückwärtsgang ein und wendete, dann jagte er mit Höchstgeschwindigkeit zurück zur letzten Ausfahrt. Über kleine Landstraßen näherte er sich der Stadtgrenze.

Auf dem Weg durch die kleinen Weiler sah alles ganz normal aus. Die Häuser waren ordentlich verschlossen, die Gärten aufgeräumt. Autos parkten in Reih und Glied in den Garageneinfahrten und Parkbuchten am Straßenrand. Trotzdem fehlte irgendetwas. Marti wurde langsamer. Als er das Gewerbegebiet etwa auf Höhe der Straßensperre passierte, wurde ihm klar, was los war.

Die Menschen fehlten. Alle Menschen.

Nirgendwo sah er auch nur einen Fußgänger. Keine Kinder auf dem Sportplatz, keine Radfahrer. Nicht einmal eine Oma saß am Fenster. Seit seiner Abfahrt von zu Hause war ihm nicht ein Auto entgegengekommen oder hatte ihn überholt. Marti schlich jetzt mit Schrittgeschwindigkeit. Sein Herz klopfte, er spürte das Schlagen in seiner Brust trotz der Motorvibrationen und fühlte eine unbekannte Angst in sich aufsteigen. Dieses Gefühl war nicht vergleichbar mit seiner Angst vor Zecken oder der Angst vor dem Zahnarzt. Diese Angst war anders, elementarer. Sie kroch ihm wie eine kalte Ahnung den Rücken hoch und ließ die Härchen auf seinen Unterarmen stehen.

Wie in einem schlechten Film, dachte er. Was zum Teufel war passiert? Ein Unfall im Chemiewerk? Nein. Es musste etwas Schlimmeres sein. Anscheinend war die ganze Stadt evakuiert worden. Großräumig und mit der berühmten deutschen Gründlichkeit. Ein GAU im tschechischen Atomkraftwerk Temelin, schoss es ihm durch den Kopf. Aber warum waren dann alle weg? Und wohin? War hier alles verseucht? Strahlung spürte man nicht. Vielleicht war er bereits dem Tode geweiht, wie die Menschen rund um Tschernobyl oder Fukushima. Aber dann wären doch zumindest das Militär und der Katastrophenschutz noch hier. Und wenn die Strahlung so heftig war, dann hätte er doch irgendetwas bemerken müssen, Schwindel, Kopfschmerzen, Nasenbluten. Aber er fühlte sich gut. Und es flogen noch Vögel herum. Irgendwo bellte auch ein Hund.

Marti passierte die Stadtgrenze, links und rechts standen Wohnhäuser. Zwei große Wohnblöcke erhoben sich im Westen. Ecke Chamer Straße und Ostpreußenweg war Schluss. Vor ihm auf der kleinen Kreuzung lagen Nagelbänder und wieder Natodraht-Rollen, in denen sich verblichene Zeitungsseiten und leere Plastiktüten verfangen hatten. Mit dem Auto war hier kein Durchkommen. Die Sache mit seinen Eltern konnte er abhaken.

Marti ließ den Wagen auf dem Parkplatz eines Gasthofs ausrollen, der direkt vor der Sperre stand. Götzfried stand in weißen Buchstaben über dem Eingang. Er erinnerte sich, dass sie vor Jahren einmal hier eingekehrt waren, auf dem alljährlichen Fahrrad-Betriebsausflug der Online-Redaktion. Kotzfried hatten sie den Laden später scherzhaft genannt, weil einer Kollegin schlecht geworden war und sie sich auf der Toilette übergeben hatte. Ein blöder Spitzname, wie sich sieben Monate später herausgestellt hatte. Schuld am langen Verschwinden der Kollegin auf der Toilette war nicht die Küche des Hauses gewesen, sondern die beeindruckende Libido des Textchefs.

Marti machte den Motor aus und lauschte. Sein Magen knurrte. Er brauchte mehr Informationen. Er brauchte ein funktionierendes Telefon, er brauchte Internet, Fernsehen, Radio, Zeitungen. Irgendetwas. Er krempelte die Hemdsärmel hoch und zog die Krawatte auf, wie er es immer tat, wenn er sich an seinen Rechner setzte und eine neue Story tippte. Diese Scheißangst. Verdammt, er war Journalist, kein Opfer.

Benimm dich auch so. Mach deinen Job, Kollege.

Zombifiziert - Tag NullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt