7. Ausgenutztes Vertrauen

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Nach meinem kurzen Aufenthalt in der Geschlossenen konnte ich in der Nacht kein Auge zubekommen. In meinen Träumen verfolgte mich das Schreien des Mannes, die leeren Augen des dünnen Mädchens und die Angst, bald selbst einer von ihnen zu werden.

Ich wachte auf und schlug die Bettdecke von meinen Beinen. Meine nackten Füße stellte ich auf den kalten Laminat-Boden, um aufzustehen. Heute war mein letzter Probetag. Ich spürte bereits, dass dieser Tag nicht so wie alle anderen Tage verlaufen werden wird. Ich wusste, dass ich bei den Leuten hier keinen guten Eindruck hinterlassen hatte. Aber vielleicht glaubten sie ja auch an das Gute in mir – wenn es das überhaupt gab.

Ich duschte mich und zog mir einen dunkelblauen Hoodie und eine schwarze Hose an. Es wurde langsam kälter. Meine dunkelbraunen Haare versuchte ich mit etwas Gel zu bändigen. Ich brauchte nicht lange, um fertig zu werden, allerdings klopfte es bereits an der Tür. »Ähm... Ethan?« Ich bekam Gänsehaut. Mein Herz fing an zu pochen. Es wusste, dass es Noah war. Er begrüßte mich mit der gleichen Art wie am Vortag. Und ich hatte Angst, dass das Gleiche passieren würde, wie letztes Mal. In diesen wenigen Sekunden der Stille flogen mir hunderte Gedanken im Kopf herum. Ich hatte Angst, zu antworten. Dann atmete ich tief durch. »Ja?« Ich antwortete, während ich die kühle Metallklinke der Tür öffnete. Er stand mit reibenden Händen vor mir. »Ich wollte nur wissen, ob du schon wach bist.« Er war extrem vorsichtig. Er wagte es nicht einmal, in meine Augen zu blicken. Ihm war die Situation wohl genauso peinlich wie mir. »Die anderen sind schon im Speisesaal«, bemerkte er verlegen. Ein riesiger Stein fiel mir vom Herzen. Ich müsste hier nicht mit ihm warten müssen und die unangenehme Stille in Peinlichkeit ertränken. Wir liefen durch die Glastür und plötzlich hafteten tausend Blicke auf uns. Scheinbar hatte sich das gestrige Ereignis herumgesprochen. Ich distanzierte mich von Noah, um die anderen nicht auf falsche Gedanken kommen zu lassen.

Wir aßen gemütlich unser Frühstück, als meine Betreuerin zu unserem Tisch gelaufen kam. Sie machte einen deutlich netteren Eindruck als der fiese Drache von gestern. Trotzdem hatte sie einen ernsten Blick auf ihrem Gesicht. »Ethan«, sagte sie freundlich. "Hm? Was gibt's?« Ein leichtes Lächeln umspielte ihren mit Lippenstift bemalten Mund. »Heute ist dein letzter Probetag. An diesem Tag dürfen die Patienten mit ein paar Freunden nach draußen. Ihr könnt in die Stadt oder einfach nur in den Park.« Josh war bis jetzt besonders still gewesen. Doch jetzt verpasste er mit unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein. Anscheinend wollte er was von mir. Seine Augen funkelten aufgeregt, als hätte er mal wieder eine äußerst verschrobene Idee. Langsam bekam ich Angst vor seinen Ideen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass diese funkelnden Augen mich heute noch in Schwierigkeiten bringen würden.

»Aber bevor ihr jetzt anfangt, einen Ausbruch zu planen, denkt dran, dass ich euch die ganze Zeit begleiten werde.« Das konnte ich mir schon denken. Welcher Geistesgestörte würde denn jemanden wie Josh ohne Aufsicht auf die Außenwelt loslassen? »Um 13 Uhr kommt ihr bitte in den Gemeinschaftsraum. Dort warte ich dann auf euch. Ihr könnt euch noch Geld für Klamotten oder so einpacken.« Sie war extrem locker mit uns. Anstatt uns direkt mit Handschellen auszustatten, damit wir bloß keinen Schaden anrichten, ließ sie uns einfach gehen.

Josh sprintete bereits aus dem Saal, um in sein Zimmer zu gelangen. Wir folgten ihm. Mit zügigen Schritten lief er den Gang hoch. In seinem Zimmer angekommen, schmiss er sich auf sein Bett und wartete auf uns. »Macht verdammt nochmal die Tür zu!«, schrie er aufgebracht. Als ich dies erledigte, setzte ich mich mit den anderen zu ihm aufs Bett. "Was ist denn los mit dir?«, fragte Madison und fasste ihm an die Stirn, als würde sie prüfen wollen, ob er Fieber hätte. »Ich habe einen Plan.« Er rieb sich die Hände wie ein kleines Kind, dass auf sein Geschenk wartete. »Oh, nein«, sagte Noah und blickte Madison ängstlich an. Anscheinend waren die Ideen von Josh wirklich nicht immer die besten. »Ich habe schon so lange darauf gewartet. Heute gehen wir in die Stadt.« »Na und?« Madison warf ihm einen kritischen Blick zu. »Checkt ihr es denn nicht? Das ist die Chance, um in dieser Irrenanstalt hier mal was Geiles zu machen!« »Und was?« »'Ne Party natürlich!« Einerseits war ich erschrocken über diese Idee, andererseits konnte man von Josh nichts anderes erwarten. »Also. Madison? Du kannst dir ruhig Klamotten kaufen gehen und ich kaufe den Alkohol. Ich tue den dann in deine Tasche und du legst einfach die Sachen, die du gekauft hast, darüber. Dann fällt das nicht auf. Dir vertrauen die doch sowieso.« Da war was dran. Die Betreuer waren immer besonders nett zu Madison. Sie kamen nie auf die Idee, sie für irgendetwas zu verdächtigen. Madisons unsicherer Blick sagte mehr als tausend Worte. Sie wusste wohl selber nicht, ob sie auf dieses unbedachte Angebot eingehen sollte.

13 Uhr. Josh rannte förmlich in den Gesellschaftsraum. Ich hatte diesen Jungen noch nie so aufgeregt gesehen. Die freundliche Betreuerin war bereits im Raum und begrüßte uns mit einem leichten Winken. »Sollen wir dann los?«, fragte sie, als sie sich schon die Jacke anzog. »Ja!« Josh hatte das unglaublich laut gesagt. Er konnte seine Aufregung kaum noch zurückhalten. Als Noah, Avery und Madison auch noch dazu kamen, verließen wir zusammen mit der Betreuerin die Psychiatrie. »Ach, ich bin übrigens Carol«, sagte sie, während wir aus der Tür liefen. »Wo wollt ihr zuerst hin?«, fragte Carol. »Können wir uns nicht aufteilen? Du, Madison und Avery gehen Klamotten kaufen oder so... und Noah, Ethan und ich gehen etwas herum. Wir treffen uns um 14 Uhr wieder an der Kirche. Okay?« Carol nickte. Sie war verdammt naiv. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass sie uns so sehr vertraute.

Wir betraten einen Supermarkt. Nach kürzester Zeit fanden sich fünf Schachteln Zigaretten in unserem Einkaufswagen. »Du bist doch echt nicht mehr zu retten«, sagte ich zu Josh, während er den Wagen gemütlich weiter schob. Nun waren wir bei der Getränke Abteilung angelangt. Whiskey, Tequila, Cognac und Bier waren in unserem Wagen zu finden. Ich schämte mich, als ich an den Leuten im Supermarkt vorbei lief. An der Kasse angekommen, musste Josh erstmal seinen Ausweis zeigen. Ich wusste gar nicht, dass dieser Junge schon 18 ist.

Ich hatte einen kleinen Rucksack mitgenommen. Wir taten die Flaschen dort hinein und gaben ihn Noah. Er war der Unschuldigste von uns. Nach einer Viertelstunde kamen wir an der Kirche an. Die Mädchen warteten schon auf uns. Josh stellte sich gezielt neben Noah und Madison, um geschickt eine Flasche nach der anderen in ihre Tasche wandern zu lassen. Am Schluss warf er noch die Zigaretten rein. »Jungs? Kommt mal her.« Verdammt. Waren wir etwa aufgeflogen? »Ich werde euch kurz abtasten. Man kann ja nie wissen, auf welche Ideen ihr so kommt.« Zuerst Josh, dann Noah und zuletzt ich. Keinen Befund. Alles war bereits in Madisons Tasche.

Wir machten uns auf den Weg zurück. Es dämmerte schon, als wir an der Psychiatrie ankamen. Wir schlichen uns am Speisesaal vorbei. Die perfekte Gelegenheit. Jeder befand sich im Saal und keiner würde auf die Idee kommen, dass wir uns jetzt besaufen würden. Die Psychiatrie hatte einen eingezäunten Platz. Dort durfte jeder drauf. Wir suchten uns eine dunkle Ecke. Josh öffnete bereits die erste Flasche Tequila mit seinen Zähnen. Er war so erleichtert, dass ihm seine Mission geglückt war. Es dauerte nicht lange, bis die erste Flasche leer war. Alle verhielten sich seltsam. Josh lachte über alles, Avery fing endlich mal an Emotionen zu zeigen und Madison krempelte ihr T-Shirt immer weiter hoch.

Die ganze Situation artete bei jeder neuen Flasche immer mehr aus. Es war eines meiner ersten Male, dass ich Alkohol trank. Die komplette Welt drehte sich. Gesichter fingen an zu verschwimmen und ich verstand nicht mehr, was die anderen zu mir sagten. Ich sah nur noch, dass Avery schon fast so viel Alkohol auf ex trank wie Josh. Und das war echt unnormal. Doch der kleine Idiot mit den dummen Ideen saß auf dem Boden und bildete Ringe mit dem Qualm seiner Zigaretten. »Nichts kann mich aufhalten!«, nuschelte Noah neben mir und griff nach meiner Hand. Ich wusste, was das bedeuten würde. Seine gespitzten Lippen näherten sich meinen, doch es kam nicht zu einen Kuss. In der letzten Sekunde bückte ich mich und kotzte auf meine Schuhe. Noah war darauf nicht gefasst und verlor das Gleichgeweicht. Er taumelte benommen über den rutschigen Asphalt. »Avery!«, schrie Madison panisch und hockte sich zu dem am Boden liegenden Mädchen. »Ist sie tot?«, fragte Josh und stocherte mit einem kleinem Ast in ihrem Gesicht herum. Diese dummen Taten und Fragen von Josh waren teilweise echt amüsant. Doch jetzt blieb keine Zeit zum lustig sein. Wir verstauten schnell die letzten Flaschen und zogen Avery dann an Händen und Füßen zurück in das Gebäude. Als wir ihr Zimmer erreichten, hoben wir sie auf ihr Bett. Josh war so voll, dass er sich dabei am Bett festhalten musste.

Aus irgendeinem Grund vergaßen wir, die Tür zu schließen. Carol lief an dem Zimmer vorbei und blieb stehen. Sie starrte uns einfach nur entsetzt an. »Was ist denn hier passiert?«, fragte sie in einer kreischenden Tonlage, als sie Averys reglosen Körper im Bett sah. Das konnte ja nur blöd enden. Danke, Josh.

Danke an alle, die sich dieses Kapitel durchgelesen haben. Es kann sein, dass ich an manchen Stellen zu wortkarg geschrieben habe, aber ich wollte einfach nicht zu viel schreiben. Immerhin soll es ja noch angenehm zu Lesen sein. Ich freue mich sehr über Rückmeldungen. Und ich hoffe, ihr wisst, dass Handlungen in diesem Kapitel nur meiner Fantasie entsprechen. Ich denke nicht, dass so etwas im Alltag einer Psychiatrie vorkommt. :'D Aber ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat. Ihr könnt mir gerne Rückmeldungen in den Kommentaren zurücklassen.

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